Stay Behind: Eine unfromme Legende?

Dass der Staat der größte Terrorist von allen ist, ist ja gar kein Geheimnis mehr: Um 1990 herum kam heraus, dass die NATO eine geheime Organisation namens »stay behind« (in Italien »Gladio«) unterhielt, angeblich, um im Falle eines Überfalls der Sowjetunion auf den Westen hinter den Linien zurückzubleiben (»stay behind«) und den Feind durch Sabotage zu bekämpfen. Allerdings verübten und unterstützten beispielsweise die »Gladiatoren« reihenweise Terroranschläge im eigenen Land. Das heißt: Der »stay behind«-Auftrag war womöglich nur eine Legende. In Wirklichkeit ging es möglicherweise schon immer nur um Terror »daheim«.

Kurz vor Weihnachten 1969 knallte es auf belebten Plätzen in Rom und Mailand. Vier Bomben töteten 16 Menschen. 1972 krachte es bei dem italienischen Dorf Peteano. Eine Autobombe verletzte drei Carabinieri tödlich. 1974 tötete eine Bombe im Italicus Express von Rom nach München zwölf Menschen. 1978 wurde der Vorsitzende der italienischen Christdemokraten, Aldo Moro, entführt und ermordet. 1980 brachte eine Bombe den Bahnhof von Bologna halb zum Einsturz. Bilanz: 85 Tote und etwa 200 Verletzte.

Der Mörder: Natürlich immer der Gärtner. Beziehungsweise: die »Kommunisten«, die »Linken« oder die »Roten Brigaden«.

Die gute Nachricht: Die Killer wurden häufig geschnappt, zum Beispiel die Autobombenkiller der Carabinieri bei Peteano. Die schlechte: Es waren gar keine Linken, sondern Rechte. Die noch schlechtere: Sie wurden von der NATO-Truppe stay behind geführt, unterstützt und mit Waffen und Sprengstoff versorgt. Seitdem wissen wir: Der Staat ist der schlimmste Terrorist von allen.

Schon 1984,  lange bevor die Sache europaweit an die Öffentlichkeit kam, plauderte der Attentäter von Peteano vor Gericht. Der Mann, Vinzenzo Vinciguerra mit Namen, gehörte nicht etwa zu den Roten Brigaden, sondern zu den Neofaschisten.

»Anhand des Massakers von Peteano und aller anderen, die noch folgten, sollte das Vorhandensein einer real existierenden, okkulten und verborgenen Struktur klar geworden sein, mit dem Ziel, den Verbrechen eine strategische Richtung zu geben«, sagte Vinciguerra. Diese Struktur, so Vinciguerra, sei im Staate selbst beheimatet. In Italien gebe es parallel zum Militär eine geheime anti-sowjetische Streitmacht, um den Widerstand gegen die Sowjets auf italienischem Boden zu organisieren. Es handele sich um eine »Super-Organisation« mit einem Kommunikationsnetzwerk, Waffen und Sprengstoff, die mangels eines sowjetischen Angriffs die Linke im eigenen Lande bekämpfte.

Aha, und wie? Ganz einfach: Indem man den Linken immer neue Greueltaten in die Schuhe schob.

Soweit, so bekannt. Und zuletzt durch den Schweizer Wissenschaftler Daniele Ganser akribisch erforscht (Buchtitel: Nato-Geheimarmeen in Europa - Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung, siehe rechts).

Weniger klar ist zunächst mal die Rolle von stay behind bei Terrorattentaten in anderen Ländern Europas, zum Beispiel in Deutschland. Wie in dem Buch Das RAF-Phantom (siehe rechts) ausführlich beschrieben, gab es auch da zumindest ab Mitte der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts keine Spuren zu irgendwelchen linken« durch eine wachsende und umheimliche Professionalität aus. Bis heute wurden keine Verdächtigen der großen Attentate seit 1985 gefasst. Die Morde an Gerold von Braunmühl, Alfred Herrhausen und anderen sind seit rund 20 Jahren unaufgeklärt.

Des weiteren gibt es in der herrschenden Darstellung von Gladio/stay behind noch einige Fragen.

Da wäre erstens die Organisationsstruktur. Wie es aussieht, waren die stay- behind-Banden genau so organisiert, wie man es auch von den »offiziellen« Terrorgruppen, wie beispielsweise der »RAF«, behauptete: In Zellen. Ihre Waffen lagerten sie genau wie die »RAF« in Depots. Der »RAF«-Terrorist Christian Klar wurde 1982 just bei der Suche nach einem Depot verhaftet. Die stay-behind-Killer waren genau jene »Feierabend-Terroristen«, die man zuletzt in den »RAF«-Leuten vermutete: Die meiste Zeit gingen sie ganz gewöhnlichen Berufen nach, ihr tödliches Hobby betrieben sie hauptsächlich in der Freizeit.

Da wäre zweitens die geringe Zahl von stay-behind-Kämpfern. Pro Land sollen nur ein paar hundert Untergrund-Guerilleros verpflichtet worden sein – für den Kampf gegen eine sowjetische Invasionsarmee eher wenig. Genau passen würden diese Kapazitäten statt dessen zu einem internen Terrornetzwerk, das pro Jahr nur wenige Attentate verübt.

Da wäre drittens die Behauptung, die wenigen Kämpfer hätten erst im Invasionsfall weitere Kräfte rekrutieren und trainieren sollen. Unter Invasionsbedingungen ein schwieriges Unterfangen.

Da wäre viertens die umheimliche Ähnlichkeit zwischen professionellen »RAF«-Attentaten und stay-behind-Operationen wie der Entführung von Aldo Moro. Die Moro-Entführung von 1978 glich bis aufs Haar der Schleyer-Entführung von 1977: Bewaffneter Überfall auf die Fahrzeugkolonne, Erschießung der Begleiter, Entführung der weitgehend unverletzten Zielperson, wochenlange Geiselhaft, schließlich Ermordung und Deponierung der Leiche in einem Fahrzeugkofferraum.

Da wären fünftens die Lügen und Vertuschungen schon bei Attentaten der 2. »RAF«-Generation. Wie der Sohn des Mordopfers Siegfried Buback, Michael Buback, demnächst in seinem Buch Der zweite Mord an meinem Vater (Droemer) aufzeigen wird, wurde gegen eine Hauptverdächtige nicht ausreichend ermittelt – eine Hauptverdächtige, die schon vor dem Attentat Kontakte zu Geheimdiensten unterhielt.

Da wäre sechstens der Umstand, dass jede Geheimoperation eine Legende besitzt: Entweder von vorneherein oder für den Fall des Auffliegens. Nur wurde die Legende im Fall stay behind bisher noch nicht entdeckt oder entlarvt. Legenden kennen wir nur für jedes einzelne Attentat.

Denkbar wäre deshalb, dass es sich bei der Legende um das angebliche stay- behind-Konzept selbst handelte, das zum Teil auch den eigenen Leuten erzählt wurde. Also die Behauptung, man sei ja nur für den Invasionsfall da, um gegen die Sowjetunion zu kämpfen.

Das würde heißen:

In Deutschland fand das letzte große RAF-Attentat mit Todesfolge übrigens just 1991 statt (der Anschlag auf den Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder), kurz, nachdem stay behind aufgedeckt worden war. Schon bald darauf erklärte die »RAF« offiziell einen »Gewaltverzicht«.

Eins steht jedenfalls fest: Die »RAF«, insbesondere die dritte Generation, mag es gegeben haben oder auch nicht. Die stay-behind-Terroristen gab es ganz sicher.

»Stay Behind«: Eine unfromme Legende?
Autor: Gerhard Wisnewski
Quelle der Erstveröffentlichung: http://info.kopp-verlag.de