Der Film "1972" enthüllt neue Informationen über das Olympia-Attentat in München
Die Sensation ist für jedermann zu sehen; doch niemand hat es bislang bemerkt. Der jetzt gedrehte Film "1972" der international renommierten Künstlerin und Filmerin Sarah Morris konterkariert alles, was bislang veröffentlicht wurde über den gescheiterten Versuch, die israelischen Geiseln während der Olympischen Spiele zu befreien. Erstmals benennt nämlich der damalige Polizeipsychologe Georg Sieber, wer die wahren Verantwortlichen für das Scheitern und damit für den Tod der neun Geiseln und eines Polizisten gewesen seien: Sicherheitskräfte in Israel.
Sollten sich diese Angaben Georg Siebers bestätigen, wäre dies ein Skandal internationalen Ausmaßes. Der historische Sprengstoff kommt fast beiläufig daher in einem rund 60-minütigen Interview mit Sieber: "Die operative Leitung sollte in Israel sein. (...) Die ganze Geschichte wurde so gesteuert. als fände sie irgendwo an der israelisch-palästinensischen Grenze statt und nicht in München in einem olympischen Dorf mitten in einer olympischen Szenerie."
Diese Aussagen stellen alles auf den Kopf, was bislang über die katastrophale Geiselbefreiung geschrieben wurde. Am 5. September 1972 waren palästinensische Terroristen in die Unterkunft der israelischen Mannschaft eingedrungen, hatten zwei Sportler getötet und neun als Geiseln genommen. Sie werden mit Hubschraubern zum Flughafen Fürstenfeldbruck geflogen. Das Desaster geht weiter. Denn auf acht Terroristen werden nur fünf Präzisionsschützen eingesetzt, ohne Helm und schusshemmende Westen. Sie werden auch noch von falsch aufgestellten Scheinwerfern geblendet – die Terroristen sprengen mit einer Handgranate sich und die Geiseln in die Luft.
Für die schief gelaufene Befreiungsaktion wurden stets die deutschen Polizeikräfte und Politiker im Krisenstab verantwortlich gemacht. Die Angehörigen der israelischen Opfer machten Schadensersatz geltend und verklagten die Bundesregierung, die bayrische Landesregierung und die Stadt München. Doch die Beweiskette gegen die Deutschen ließ sich nie schließen. Nach Angaben der Anwälte der Opfer verschwanden acht Leitz-Ordner Ermittlungsakten des Landeskriminalamts, drei Skizzen und fünf Fotomappen. Weitere Protokolle, Bandmitschriften und Dokumente sollen mit der höchsten Sperrfrist belegt sein, die sonst nur für Regierungsgeheimnisse gelten: 48 Jahre.
Bislang wurde dies als Beleg dafür gewertet, die Deutschen hätten etwas zu verbergen. Dies könnte aber natürlich auch ein Indiz für das genaue Gegenteil genommen werden, dass nämlich vertuscht werden soll, dass bei der Geiselbefreiung auf deutschem Boden gar nicht deutsche Politiker und Sicherheitskräfte das Sagen hatten, sondern die komplette Verantwortung in israelischen Händen gelegen habe, so Sieber. Gegenüber Telepolis antwortet Georg Sieber:
Aufzeichnungen vom Tattag sind weder in Israel noch in Deutschland einsehbar. Mit Sicherheit gab/gibt jedoch es Mitschnitte, die von bilateralen Vorgängen dieser Größenordnung jedenfalls erstellt werden. Bis heute sind diese nicht zugänglich.
Georg Sieber
Im Film sagt Sieber: "Die Deutschen waren richtig brave Empfänger von Befehlen, die sie dann irgendwie ausgeführt haben."
Sollte sich dies bewahrheiten, wären das Nachrichten von Weltrang. Es wäre die Frage zu stellen, wie der tatsächliche Ablauf gewesen ist. Welche israelischen Politiker und welche Sicherheitskräfte haben was genau befohlen, und vor allem warum durften sie das? Auf Anfrage von Telepolis berichtet die Regisseurin des Films Sarah Morris: "Ich war baff erstaunt darüber, wie wenig die Frage nach der tatsächlichen Befehlskette und –struktur thematisiert wurde."
Vorwarnungen und verdächtige Verwicklungen
Oftmals steckt in scheinbar drögen Dienstvorschriften und Völkerrechtsabkommen der wahre Sprengstoff; zumindest, wenn es um Sicherheitsthemen geht. Man muss nur willens sein und die Mittel dafür bekommen, diesen zu sehen und zu bergen. Manche scheuen davor zurück mit der Begründung, nach über 30 Jahren sei ja wohl kaum noch Neues zu entdecken und verkennen dabei, dass es genau dieser zeitliche Abstand ist, der manche zum Reden bringt. Schließlich enthüllte am 4. April Ewald Riethmüller, dass der ehemalige PLO-Sicherheitschef und Mitorganisator des Olympiaanschlags Atef Bseiso in Wahrheit Informant des Bundesamts für Verfassungsschutz gewesen sein soll, Focus wiederholte dies ausführlicher einen Monat später.
Dies ergänzt Vorwürfe, die die Opfer-Anwälte bereits 1999 machten und die Telepolis vorliegen: "Man wusste weiter davon, dass während der Olympischen Spiele in München von palästinensischer Seite ein Zwischenfall inszeniert werden sollte. In der Mitteilung wurde abschließend empfohlen, "alle im Rahmen des Möglichen liegenden Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen." Dabei stützten sich die Anwälte auf das Schreiben des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz vom 9.10.1972. Weiter heißt es, man habe unmittelbar vor den Spielen erfahren, "dass palästinensische Terrorgruppen aus Beirut mit unbekanntem Ziel zur Durchführung ungeklärter Operationen abgereist seien."
Wie man angesichts solcher Erkenntnisse noch von "heiteren Spielen" (offizieller Olympia-Slogan) ausgehen konnte, ist ein Rätsel. Zumal sich herausstellte, dass der Mitorganisator der Geiselnahme, der sogenannte "Rote Prinz", Ali Hassan Salameh, für den amerikanischen Geheimdienst CIA arbeitete. Ging man also fälschlicherweise davon aus, die Terrorgruppe dank der V-Leute "im Griff" zu haben?
Dr. David Thomas Schiller, deutscher Terrorismusexperte mit israelischem Pass, äußert sich auf Anfrage von Telepolis nur zu Georg Sieber: "Warum hat er so lange mit seinen Enthüllungen gewartet, bis fast alle israelischen Zeitzeugen tot sind", will er wissen. Überhaupt sei er doch nur Psychologe gewesen, habe also vom eigentlichen Einsatz keine Ahnung haben können.
Aber, so zumindest die Filmdarstellung, Sieber hatte die Aufgabe, Szenarien zu schreiben, wie 15 Terrorgruppen typischerweise angreifen würden. Sein Szenario 26 sei dann tatsächlich eingetreten: "Genauso ein Angriff wie aus dem Lehrbuch der PLO ereignete sich dann." Warum aber war man dann nicht besser vorbereitet? Georg Sieber hat auf Anfrage von Telepolis die Erklärung parat, es habe wie immer "waschkörbeweise Warnungen gegeben" – diese seien aber "jedoch nicht von der Münchner Polizei zu bearbeiten" gewesen. Was immer das bedeuten mag.
Widersprüchlich auch die Einschätzung anderer israelischer Sicherheitsexperten auf die Anfrage von Telepolis. Einerseits sei man enttäuscht darüber gewesen, dass die Deutschen nicht erlaubt hätten, die israelische Spezialeinheit Sayeret Matkal einzusetzen. Außerdem hätten sich Repräsentanten Bayerns geweigert, mit dem Leiter des israelischen Auslandsnachrichtendienstes Mossad, General Zvi Zamir sowie einem Arabisch sprechenden Offizier des israelischen Inlandsnachrichtendienstes Shabak zusammenzuarbeiten.
Andererseits sei an das Buch "Operation Eva" von Frank P. Heigl und Jürgen Saupe erinnert über die Affäre Langemann. Darin ist zu lesen, der BND-Mann Hans Georg Langemann sei zum Sicherheitsbeauftragten des Koordinierungsreferats Olympische Spiele ernannt worden, das offiziell dem Bayerischen Kultusministerium angegliedert war. In "Operation Eva" heißt es auf Seite 167:
EVA-Sonderverbindung Dr. Ludwig Huber, erst Kultus- und dann Innenminister in Bayern, später dann Präsident der Bayerischen Landesbank, brachte eine weitere ehemalige BND-Mitarbeiterin in bayerischen Diensten unter: Dr. Erika von Bülow, die als von Cornely beim Marquese de Mistura zu Rom arbeitete, ehe sie mit Langemann zusammen zu den Olympischen Spielen in München ging. Mit extrem eingeschränkten Aussagegenehmigungen durch den Bundesnachrichtendienst wird verhindert, dass die volle Wahrheit über die Verquickung von BND und Olympischen Spielen bekannt wird.
Um nicht die Kooperation zwischen Bundesnachrichtendienst (BND) und dem Mossad zu gefährden, sei Stillschweigen darüber vereinbart worden, wie weit der BND tatsächlich involviert war; heißt es in Israel. Immerhin fahndeten die Münchner Anwälte der Angehörigen vergebens nach Akten, die das Organisationskomitee für die Olympischen Spiele betreffen – sie waren verschwunden. Nicht die einzigen Unterlagen, die verschwunden waren.
Wurden die Verantwortlichen für die missglückte Geiselbefreiung zum Staatsgeheimnis erklärt?
Die Filmemacherin Sarah Morris erlebte Ähnliches. Telepolis erzählt sie vom Dreh im Bayerischen Staatsarchiv. Eigentlich wollte sie nur den Überwachungsfilm des polizeilichen Videotrupps von den Trauerfeierlichkeiten. Ein entgeisterter Bibliothekar stammelte nur noch "Das gibt´s doch gar nicht." Denn die Filme waren verschwunden. Stattdessen lagen Bänder einer Demo in der Box. Am nächsten Tag habe Georg Sieber gesagt: "Sie glauben doch wohl nicht, dass dies ein Zufall war, oder?"
Auf Anfrage von Telepolis meint Sieber zur Frage, warum all die Jahre deutsche Politiker und Beamte geschwiegen und sich als Deppen vom Dienst hätten darstellen lassen: "Ich gehe davon aus, dass diese Verschwiegenheit zu diesbezüglichen diplomatischen Vereinbarungen mit der israelischen Regierung gehörte und noch immer gehört."
Dann aber handelt es sich um ein Staatsgeheimnis, wer wirklich für das Debakel der missglückten Geiselbefreiung bei den Olympischen Spielen von 1972 verantwortlich war. Warum erhielt Sarah Morris die Chance, das Geheimnis ein klein wenig zu lüften? Offiziell tritt sie nicht als Filmemacherin auf, sondern als Künstlerin. Damit erscheint sie unverdächtig, nicht politisch und kommt so an Aussagen, Sichtweisen, Dinge, die politischen Magazinen manchmal versagt werden, weil bei Gesprächspartnern und Presseverhinderern aller Art die Angst zu groß ist. Sie hingegen überwindet Barrieren, weil für sie gar keine aufgestellt werden. Künstler haben Narrenfreiheit – und so darf sie zur Zeit auch in Peking drehen, wie die Olympischen Spiele vorbereitet werden.
Das Museum of Modern Art (MOMA) in New York habe um die Filmrechte mitgeboten, erzählt der Kurator des Münchner Lenbachhauses Matthias Mühling, aber er habe den Zuschlag erhalten. Zu sehen ist der Film "1972" von Sarah Morris übrigens noch bis zum 3. August im Museum Lenbachhaus in München.
Quelle des Originalartikels: telepolis.de