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Die Welt als Schachbrett - Der neue Kalte Krieg des Obama-Beraters Zbigniew Brzezinski

Ausblicke auf eine Präsidentschaft Obamas:

Die politischen Zyklen der westlichen Welt sind eng verknüpft mit den Amtszeiten amerikanischer Präsidenten. Mit jedem neuen US-Präsidenten verändert die Welt ein wenig ihren Charakter. So war die Präsidentschaft Clintons mit einer optimistisch nach außen vertretenen Globalisierung verbunden. Was im Heimatland des Imperiums eine riesige Finanzblase erzeugte, führte allerdings von Südostasien, Russland und Ländern Lateinamerikas zu einer ganzen Reihe tragischer Wirtschaftskrisen. Die Amtszeit Bushs war eng verknüpft mit dem „War on Terror“. Der selbst ernannte Kriegspräsident gewöhnte die Welt an die Wiedereinführung von Folter und geheimen Gefängnissen. Nach acht Jahren Regierungszeit ist das Ansehen der USA stark beschädigt und beschränkt zunehmend auch den Bewegungsspielraum amerikanischer Außenpolitik.

Nun bereiten sich die Vereinigten Staaten erneut auf einen Regierungswechsel vor. Man fragt sich, welcher Flügel der Elite nun an die Macht kommen wird und womit die Welt als nächstes zu rechnen hat. Vieles deutet darauf hin, dass Barack Obama zurzeit die besten Aussichten hat, der kommende amerikanische Präsident zu werden. Obama wird von dem Multimilliardär George Soros und dem ehemaligen Sicherheitsberater unter Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, unterstützt. Brzezinski ist zugleich der führende außenpolitische Berater Obamas. Als graue Eminenz unter den amerikanischen Geostrategen verkörpert er die Sichtweisen und Interessen eines ganzen Flügels der amerikanischen Elite. Aufgrund seines intellektuellen Ranges muss sein Einfluss als sehr hoch veranschlagt werden. Unter einer Präsidentschaft Obamas werden höchstwahrscheinlich die geopolitischen Vorstellungen dieser "Brzezinski-Fraktion" zum Tragen kommen. Hinzu kommt noch, dass Zbigniew Brzezinskis Tochter, die Fernsehmoderatorin Mika Brzezinski, Obama unterstützt, während ihr Bruder Mark Brzezinski ebenfalls zu den Beratern Obamas gehört.

Zbigniew Brzezinski gilt heute neben Henry Kissinger als einer der führenden Strategen amerikanischer Außenpolitik im 20. Jahrhundert. Als sein Hauptwerk ist das 1997 veröffentlichte Buch „The Grand Chessboard“ anzusehen, das einen tiefen Einblick in die langfristigen Interessen amerikanischer Machtpolitik gewährt. „The Grand Chessboard“ ist heute noch aktuell, weil es einen analytischen Abriss der geopolitischen Zielsetzungen der USA für einen Zeitraum von dreißig Jahren enthält. In seinem jüngsten Buch „Second Chance“ aus dem Sommer 2007 unterzieht er die Regierungen Bush I, Clinton und Bush II einer tief greifenden Kritik. Der Vorwurf lautet, sie hätten die Chance, nach dem Zusammenbruch der UdSSR ein System dauerhafter amerikanischer Vorherrschaft zu errichten, unzureichend genutzt. Brzezinski sieht jedoch eine „Zweite Chance“. Diese besteht darin, die unilaterale Politik einzuschränken und verstärkt auf Kooperationen und Absprachen mit Europa und China zu setzen. Auch mit Syrien, Iran und Venezuela sollen Verhandlungen aufgenommen werden. Zugleich soll jedoch Russland isoliert und möglicherweise auch destabilisiert werden.

Die wesentliche Differenz zwischen Brzezinski und den Neokonservativen besteht im Verhältnis zum Islam und zu Israel. Brzezinski setzt sich für eine konstruktive Lösung des Israel-/Palästinenser-Konfliktes ein. Denn als klassischem Geopolitiker sind ihm, anders als Bush junior, religiöse Motive fremd. In jüngster Zeit trat er zudem als Kritiker einer Politik auf, die sich auf einen Kampf der Kulturen gründet. Er befürchtet, dass der Kulturkampf zwischen dem Westen und dem Islam langfristig die amerikanischen Interessen im Nahen Osten beschädigen könnte. Nachdenklich stimmt Brzezinskis Kommentar zu Samuel Huntingtons Vorhersage eines Kampfes der Kulturen: "Huntington’s case appeared to be a provocative Prophecy that ought not be allowed to become self-fullfilling.”[1] („Der Fall Huntington wirkte wie eine provokative Prophezeiung, der man es besser nicht gestatten sollte, zu einer selbsterfüllenden zu werden.“) Doch diese Differenzen dürfen nicht darüber hinweg täuschen, dass sich Brzezinski hinsichtlich des Ziels US-amerikanischer Vorherrschaft mit den Neokonservativen einig ist. Glaubten Letztere dieses Ziel durch die direkte militärische Kontrolle der Ölvorräte des Nahen Ostens zu erreichen, so könnte sich unter einer von Brzezinski beeinflussten Präsidentschaft Obamas der Schwerpunkt amerikanischer Außenpolitik auf die aufsteigenden Rivalen Russland und China verlagern. Eine von Brzezinskis beeinflusste US-Außenpolitik hätte zum vorrangigen Ziel, eine weitere Vertiefung der Bündnisbeziehungen zwischen beiden Staaten, wie sie sich in der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) vorbereiten, zu verhindern. Ziel wäre es, China durch spezielle Angebote aus dem Bündnis zu lösen und Russland zu isolieren. Als Sohn eines polnischen Diplomaten lebte Zbigniew Brzezinski im Alter von 8 bis 10 Jahren während des Höhepunkts der stalinistischen Säuberungen in der Ukraine. Möglicherweise ist dies der Grund, warum Brzezinskis Denken auf verhängnisvolle Weise auf Russland fixiert ist. Wie im folgenden zu zeigen sein wird, gibt es begründeten Anlass zu der These, dass sich unter einer Präsidentschaft Obamas die bereits eingeleitete Entwicklung hin zu einem neuen Kalten Krieg weiter verschärfen wird.

Brzezinskis Strategie amerikanischer Vorherrschaft

Dies wird besonders deutlich, wenn man die beiden zentralen Prämissen berücksichtigt, die Brzezinski seinem Hauptwerk „The Grand Chessboard“ – aber auch all seinen anderen Schriften – zu Grunde legt. In deutscher Übersetzung heißt das Buch: „Die einzige Weltmacht“. Dieser Titel bezeichnet den ersten Grundsatz, nämlich den erklärten Willen der USA, vorerst die „einzige“ und – wie Brzezinski es nennt – sogar „letzte“[2] Weltmacht zu bleiben. Noch entscheidender ist jedoch die zweite Prämisse. Ihr zufolge ist Eurasien „das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft auch in Zukunft ausgetragen wird.“[3]

Diesem zweiten Grundsatz liegt die Einschätzung zu Grunde, dass eine Macht, die in Eurasien die Vorherrschaft gewinnt, damit auch die Vorherrschaft über die gesamte übrige Welt gewonnen hätte. „Dieses riesige, merkwürdig geformte eurasische Schachbrett - das sich von Lissabon bis Wladiwostok erstreckt - ist der Schauplatz des global play.“[4] "[…] wobei eine Dominanz auf dem gesamten eurasischen Kontinent noch heute die Voraussetzung für globale Vormachtstellung ist."[5] Und zwar einfach deshalb, weil Eurasien der mit Abstand größte Kontinent ist, auf dem 75 Prozent der Weltbevölkerung leben und der dreiviertel der weltweit bekannten Energievorkommen beherbergt. Brzezinski folgert deshalb: „Eine Macht, die Eurasien beherrscht, würde über zwei der drei höchst entwickelten und wirtschaftlich produktivsten Regionen der Welt gebieten.“ Außerdem sind „Amerikas potentielle Herausforderer auf politischem und/oder wirtschaftlichem Gebiet […] ausnahmslos eurasische Staaten.“4

Brzezinski kommt deshalb zu dem Schluss, dass das erste Ziel amerikanischer Außenpolitik darin bestehen muss, „dass kein Staat oder keine Gruppe von Staaten die Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder auch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen.“[6] Es gelte, „die Gefahr eines plötzlichen Aufstiegs einer neuen Macht erfolgreich (hinauszuschieben).“ Die USA verfolgen das Ziel, „die beherrschende Stellung Amerikas für noch mindestens eine Generation und vorzugsweise länger zu bewahren ...". Sie müssen „das Emporkommen eines Rivalen um die Macht (…) vereiteln.“[7]

Diese Äußerungen klingen zehn Jahre später durch ihr überzogenes Selbstbewusstsein außerordentlich fragwürdig. In seinem jüngsten Buch sieht Brzezinski jedoch eine „zweite Chance“, das Bemühen um eine dauerhafte amerikanische Vorherrschaft umzusetzen. Dies wird besonders deutlich an der Rolle, die Brzezinski damals wie heute Europa zuspricht. Ein transatlantisch orientiertes Europa hat für die USA die Funktion eines Brückenkopfes auf dem eurasischen Kontinent.[8] Gemäß dieser Logik würde eine EU-Erweiterung nach Osten zwangsläufig auch eine Osterweiterung der NATO nach sich ziehen. Diese wiederum – so die Idee – soll den amerikanischen Einfluss weit nach Zentralasien ausdehnen und einen Machtvorsprung gegenüber Konkurrenten sichern. „Amerikas zentrales geostrategisches Ziel in Europa lässt sich also ganz einfach zusammenfassen: durch eine glaubwürdigere transatlantische Partnerschaft muss der Brückenkopf der USA auf dem eurasischen Kontinent so gefestigt werden, dass ein wachsendes Europa ein brauchbares Sprungbrett werden kann, von dem aus sich eine internationale Ordnung der Demokratie und Zusammenarbeit nach Eurasien hinein ausbreiten lässt.“[9]

Brzezinski war sich jedoch bereits 1997 bewusst, dass auch bei erfolgreicher Durchführung dieses Plans Amerikas Weltmachtposition nur von kurzer Dauer sein kann. Warnend schreibt er an anderer Stelle: „Amerika als die führende Weltmacht hat nur eine kurze historische Chance. Der relative Frieden, der derzeit auf der Welt herrscht, könnte kurzlebig sein.“[10] Brzezinski definiert deshalb als langfristiges Ziel dieses Machterhalts die Fähigkeit, „ein dauerhaftes Rahmenwerk globaler geopolitischer Zusammenarbeit zu schmieden.“[11] Er spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „transeurasischen Sicherheitssystem (TSEE)“[12], das über die Grenzen einer nach Zentralasien erweiterten NATO hinaus Kooperationen mit Russland, China und Japan beinhalten würde.

Doch was ist mit einem transeurasischen Sicherheitssystem konkret gemeint? Haben sich andere Staatsmänner hierzu jemals geäußert? In der Tat fällt ein interessantes Licht auf Brzezinskis Ziele, wenn man sie mit Äußerungen konfrontiert, die der russische Präsident Wladimir Putin in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 10.2.2007 gemacht hat. Putin warnte in seiner Rede vor der von den USA nach dem Kalten Krieg favorisierten Geopolitik, die seiner Ansicht nach eine „unipolare Welt“ anstrebe.

„In wie freundlichen Farben auch immer man [eine solche unipolare Welt] ausmalen mag, letztlich beziehe sich der Terminus auf eine bestimmte Situation, in der es ein Zentrum der Staatsgewalt, ein Machtzentrum und ein Entscheidungszentrum gibt. Das ist eine Welt, in der es einen Herrn gibt, einen Souverän.“ „Was gegenwärtig in der Welt geschieht, ist eine Folge der Versuche, genau dieses Konzept, das Konzept einer unipolaren Welt, in die internationalen Beziehungen zu tragen. (…) Gegenwärtig erleben wir eine fast unbeschränkte, übermäßige Anwendung von Gewalt – militärischer Gewalt – in den internationalen Beziehungen, einer Gewalt, die die Welt in einen Abgrund permanenter Konflikte stürzt. Im Ergebnis haben wir nicht genügend Kraft, auch nur einen dieser Konflikte wirklich umfassend zu lösen. Politische Lösungen zu finden, wird gleichfalls unmöglich. (…) Ein Staat – und dabei spreche ich natürlich zunächst und vor allem von den Vereinigten Staaten – hat seine nationalen Grenzen in jeder Hinsicht überschritten.“[13]

Versucht man also auf Basis von Brzezinskis Darlegung der langfristigen Strategien amerikanischer Außenpolitik zu einem Verständnis von Putins Warnung vor einer „unipolaren Welt“ zu kommen, so ergibt sich folgende Lesart: Die USA streben an, ihren Einfluss auf dem asiatischen Kontinent immer weiter auszudehnen. Dabei dient ihnen Europa als Sprungbrett auf den eurasischen Kontinent. Da jede Osterweiterung Europas unter den gegebenen Umständen zugleich auch den amerikanischen Einfluss ausdehnt, sollen durch eine Kombination aus EU-Osterweiterung und Expansion der NATO viele der ehemaligen Sowjetrepubliken – wie zum Beispiel Georgien, Aserbaidschan und Usbekistan – in die westliche Einflusszone integriert werden. Maßgeblich für diese Integration ist, dass sich ein Land für ausländisches Kapital öffnet und an das westliche Rechtsverständnis anpasst. Geschieht dies, dann ist es westlichen Konzernen möglich, sich die Rohstoffvorkommen zu sichern und über die Medien Einfluss auf die Öffentlichkeit eines Landes zu gewinnen. Da die Region um das Kaspische Meer über die zweitgrößten Öl- und Gasreserven verfügt und zudem militärstrategisch von besonderer Bedeutung ist, könnte eine westliche Vormachtstellung in dieser Region die Position der USA auf dem eurasischen Kontinent massiv stärken. Zusammen mit der Kontrolle der US-verbündeten OPEC-Staaten Kuwait, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate, Katar und den eroberten Staaten Irak und Afghanistan könnte so eine Vorherrschaft der USA über Zentralasien ihnen die nötige Autorität verleihen, um von dort schließlich ganz Eurasien, einschließlich Chinas und Russlands, in eine von den USA entworfene überstaatliche Sicherheitsstruktur zu integrieren. Die von Europa ausgehende NATO-Osterweiterung und die von der Bush-Administration im Süden Eurasiens (Irak, Afghanistan) begonnenen militärischen Interventionen bilden zusammen gewissermaßen einen Keil, mit dem die USA in das Herz der eurasischen Landmasse vorstoßen.

Gelänge es den USA, dieses Ziel zunächst in Eurasien zu erreichen, so wäre die so hergestellte Ordnung aufgrund der Größe und Bedeutung des eurasischen Kontinents paradigmatisch für die gesamte übrige Welt. Lateinamerika, Afrika, Australien und alle Inselstaaten wären gezwungen, sich einer solchen Ordnung anzuschließen. Die USA wären dann nicht nur die „einzige“, sondern – wie Brzezinski es formuliert – auch die „letzte echte Supermacht[14]. Denn innerhalb der dann allmählich hergestellten globalen staatlichen Integration würde staatliche Souveränität weitgehend ihren Sinn verlieren und Geopolitik an sich an ihr Ende gelangen. Nationalstaaten würden – wie langfristig auch in der EU – zunehmend die Rolle von Bundesstaaten annehmen. Zugleich wäre der Planer und Hegemon eines solchen eurasischen Zusammenschlusses in der Lage, eine solche Ordnung so zu gestalten, dass er sie weiterhin latent dominiert, vergleichbar etwa der privilegierten Machtposition, die das Tandem Frankreich-Deutschland innerhalb der EU einnimmt. Es würde sich in der Tat um eine unipolare Welt handeln, wenn auch – dies muss hinzugefügt werden – die dann ausgebildete Machtstruktur ähnlich schwer identifizierbar und fassbar geworden sein dürfte wie heute schon in der EU. In Brzezinskis eigenen Worten klingt dies wie folgt:

„Schließlich könnte ein solches Europa sogar ein Eckpfeiler einer unter amerikanischer Schirmherrschaft stehenden größeren eurasischen Sicherheits- und Kooperationsstruktur werden.“[15]

„Käme das TESS (Transeurasisches Sicherheitssystem) also eines Tages zu Stande, wäre Amerika nach und nach einiger seiner Lasten ledig, auch wenn es weiterhin als stabilisierende Kraft und als Schiedsrichter in eurasischen Belangen eine maßgebliche Rolle spielen würde.“[16] Ein „von multinationalen Korporationen, Organisationen (…) geknüpftes Netz schafft bereits ein informelles Weltsystem, (…). Im Laufe der nächsten Jahrzehnte könnte somit eine funktionierende Struktur weltweiter Zusammenarbeit, die auf dem geopolitischen Gegebenheiten gründet, entstehen und allmählich die Insignien des derzeitigen Herrschers der Welt annehmen (nämlich der U.S.A.) (Anm. H.R.),(…). Ein geostrategischer Erfolg dieser Zielsetzung wäre dann die durchaus angemessene Erbschaft, die Amerika als erste, einzige und letzte echte Supermacht der Nachwelt hinterlassen würde.“[17]

Der verdrängte Gewaltindex unilateraler Politik

Die USA haben – seit Brzezinski diese Ziele formulierte – einen starken Verlust geopolitischer Macht erfahren. In seinem jüngsten Buch „Second Chance“ gibt Brzezinski offen zu, dass der Plan einer direkten militärischen Besetzung einiger Länder des Nahen Ostens, wie sie den Neokonservativen vorschwebte, gescheitert ist. Doch diese Niederlage ist für Brzezinski nicht so massiv, dass er die 1997 formulierten Pläne einer amerikanischen Vorherrschaft in Eurasien grundsätzlich aufgeben möchte. Das Scheitern der direkten militärischen Machtausdehnung im Süden Eurasiens bedeutet für ihn lediglich, dass nun die von Europa ausgehende Osterweiterung der NATO an Priorität gewinnt. Dies bedeutet jedoch einen massiven Vorstoß in die russische Einflusssphäre. Damit würde nach dem Iran nun Russland ins Fadenkreuz der amerikanischen Geopolitik geraten.

Die unipolare Welt, von der Putin vor einem Jahr auf der Münchner Sicherheitskonferenz sprach, ist also keine Schimäre, sondern ein reales geopolitisches Projekt der USA. Man mag einwenden, dass eine dauerhaft von den USA dominierte Welt ähnlich unspektakulär sei wie eine von Deutschland und Frankreich dominierte EU. In diesem Fall würde der von Putin benutzte Begriff einer „unipolaren Welt“ wahrscheinlich zu hoch greifen. Dem ließe sich entgegenhalten, dass zwar ein transeurasisches Sicherheitssystem auf Korporationen mehrerer Partner angewiesen sein würde, aber letztlich die USA – wie auch heute in der NATO – doch der maßgebliche Akteur und Gestalter dieses Systems wären. Dies ist schon daran ersichtlich, dass die USA im Zuge der Expansion der NATO nach Osten Tatsachen schaffen, ohne Russland und China wirklich einzubeziehen bzw. deren Sicherheitsinteressen ernst zu nehmen. Putin ließ in seiner Münchner Rede daher keinen Zweifel am imperialen Grundcharakter der so von den USA angestrebten Vormachtstellung.

„Im Ergebnis ist (eine unipolare Welt) verheerend, nicht nur für alle, die diesem System angehören, sondern auch für den Souverän selbst, weil es ihn von innen heraus selbst zerstört. Und mit Demokratie hat dies ganz gewiss nichts gemein. Denn Demokratie ist, wie sie wissen, die Herrschaft der Mehrheit unter Berücksichtigung der Interessen und Meinungen der Minderheit.“ „Ich bin der Auffassung, dass das unipolare Modell nicht nur inakzeptabel, sondern in der heutigen Welt auch unmöglich ist. Und zwar nicht nur deshalb, weil für die Führung einer einzelnen Macht in der heutigen – ausgerechnet in der heutigen – Welt weder die militärischen noch die politischen und ökonomischen Ressourcen ausreichen würden. Noch wichtiger ist, dass das Modell selbst verfehlt ist, weil ihm keine moralischen Fundamente für die moderne Zivilisation zu Grunde liegen.“ „Unilateral und häufig illegitime Aktionen haben kein einziges Problem gelöst. Vielmehr haben sie neue menschliche Tragödien verursacht und neue Spannungsherde geschaffen. Urteilen Sie selbst: die Zahl der Kriege wie auch der lokalen und regionalen Konflikte hat sich nicht vermindert. Herr Teltschik hat dies sehr behutsam angesprochen. Und in diesen Konflikten gehen nicht weniger Menschen zugrunde – es sterben sogar noch mehr als zuvor. Beträchtlich mehr! Entschieden mehr!“[18]

Was der russische Präsident anspricht, ist der in westlichen Medien weitgehend verdrängte Gewaltindex unilateraler Politik. Es liegt auf der Hand, dass das Handeln der USA in den zurückliegenden sieben Jahren wenig Wert auf internationale Absprachen und Konsensbildung gelegt hat. Das Völkerrecht wurde durch das unilaterale Handeln der USA zunehmend ausgehöhlt, während Institutionen wie die UNO geschwächt worden sind. An ihre Stelle sind die so genannten friedenserhaltenden Einsätze der USA, EU oder NATO (zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien) getreten, bei denen selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass das westliche Verteidigungsbündnis oder westliche Staaten die gesamte Weltgemeinschaft vertreten können.

Viele weitere Beispiele zeigen die Zunahme an weltweiter Gewalt als Folge des unilateralen Handelns der USA. Man denke nur an die präventive Erstschlagdoktrin der USA und ihre Anwendung im Irakkrieg. Oder man führe sich den Einsatz von Uranmunition im Irak- und Afghanistankrieg vor Augen, der – in der Presse weitgehend verschwiegen – in beiden Kriegsgebieten die Missbildungsrate bei Säuglingen vervielfacht hat.[19] Zu nennen ist zudem die in die Wege geleitete NATO-Osterweiterung bis ans Kaspische Meer, die Russland zwangsläufig beunruhigen muss. Ähnlich verhält es sich mit der Stationierung eines Raketenschildes nicht nur in Tschechien und Polen, sondern auch in weiteren an Russland angrenzenden Regionen, wie dem Nordmeer und Alaska. Schließlich ist noch die durch die USA vorangetriebene Aufrüstung im Weltraum zu nennen, von deren strategischer Logik noch zu reden sein wird. All diese Handlungen weisen einen hohen Gewaltindex auf. Sie sind einseitig beschlossen, nie kritisch im Licht der Öffentlichkeit diskutiert oder durch internationale Vereinbarungen legitimiert worden. Dies zeigt deutlich, dass die von den USA angestrebte Weltordnung nicht auf Konsensbildung und demokratischen Absprachen beruht. Stattdessen lässt das politische Handeln der Vereinigten Staaten die Strategie erkennen, durch Schaffung vollendeter Tatsachen einen Machtvorsprung vor China und Russland zu gewinnen. Durch den drastischen Anstieg der Rüstungsausgaben seit dem 11. September, die längst alle Rekorde des Kalten Krieges hinter sich gelassen haben, versuchen die USA einen technologisch uneinholbaren Vorsprung vor ihren Konkurrenten zu erlangen. Diese Politik ist gefährlich, da sie Gegenreaktionen hervorruft und bereits jetzt ein neues Wettrüsten in Gang gesetzt hat. Und es ist fraglich, ob dieser Politik ihre Gefährlichkeit genommen werden kann, indem ein zukünftiger Präsident Obama mit China und Europa Absprachen trifft, Russland aber weiterhin einer verschärften militärischen Bedrohung aussetzt.

Die strategische Logik des Raketenschildes

Besonders deutlich wird diese Politik am Beispiel der strategischen Funktion des geplanten Raketenschilds. Dessen Stationierung in Polen und Tschechien ist nicht dazu gedacht, Raketen aus dem Iran abzufangen. Erstens verfügt der Iran gar nicht über Raketen mit einer Reichweite von 5000–8000 Kilometer. Zweitens ist die Entwicklung solcher Raketen ein langwieriger Prozess, da von ersten Testflügen, die kaum unbemerkt vonstatten gehen könnten, bis zur endgültigen Fertigstellung Jahre vergehen. Und drittens: Wäre das Raketenschild dennoch gegen den Iran gerichtet, so wäre in diesem Fall der russische Kompromissvorschlag, ein gemeinsames Raketenabfangsystem in Aserbaidschan zu errichten, weit besser geeignet. Denn dort stationierte Abfangraketen könnten iranische Raketen bereits am Beginn ihrer Flugbahn treffen und zerstören. Trümmerteile würden in diesem Fall nicht über Europa, sondern über unbewohntem Gebiet, nämlich dem Mittelmeer oder dem Schwarzen Meer, niedergehen. Dass die USA diesen Kompromissvorschlag ausgeschlagen haben, lässt nur einen Schluss zu: Der Raketenschild richtet sich in erster Linie nicht gegen den Iran, sondern gegen Russland. Dies wird zudem dadurch unterstrichen, dass auch die anderen Basen des Raketenschildes in Grenzregionen zu Russland, wie z. B. Alaska, stationiert sind.

Es ist bis heute nicht geklärt, wie weit die Fähigkeit Washingtons, nukleare Langstreckenraketen bereits im Orbit abzufangen, eigentlich entwickelt ist. Oft wird daraus der Schluss gezogen, der Raketenschild hätte faktisch kaum eine militärische Bedeutung, und die russischen Sorgen seien unbegründet. In der Tat wäre ein funktionierender Raketenschild wahrscheinlich nur in der Lage, einige Dutzend nuklear bestückter Raketen abzufangen. Gegen einen realen nuklearen Überraschungsangriff mit vielen hundert oder tausend Sprengköpfen könnte dagegen auch ein Raketenschild nichts ausrichten. Das bedeutet aber nicht, dass der Raketenschirm gar keine militärische Bedeutung hätte, sondern lediglich, dass der Raketenschirm keine defensive Funktion hat. Seine Funktion ist in der Tat offensiver Natur. Dies wird deutlich, wenn man sich die strategische Bedeutung von Nuklearwaffen vor Augen führt.

Während des Kalten Krieges haben sich beide Seiten stets darum bemüht, eine nukleare Erstschlagskapazität zu erwerben. Diese war gewissermaßen der Trumpf, auf den beide Seiten mit ihren Rüstungsanstrengungen hinarbeiteten. Eine nukleare Erstschlagskapazität bedeutet, dass eine Seite in der Lage ist, die jeweils andere in einem Überraschungsangriff zu enthaupten und sie somit der Fähigkeit zu berauben, einen Gegenschlag auszuführen. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen. Etwa indem man entweder alle gegnerischen Atomwaffen in einem Überraschungsschlag außer Gefecht setzt oder aber die Kommandostrukturen vollständig lahm legt. Und schließlich, indem man einen Gegenschlag soweit zu begrenzen vermag, dass es möglich ist, ihn erfolgreich abzuwehren. Genau hier kommt der Raketenschild ins Spiel. Seine militärische Bedeutung beruht nicht darin, einen russischen Erstschlag mit Hunderten von Raketen abzufangen. Seine Aufgabe besteht darin, nur ein paar Dutzend Raketen abzufangen – nämlich jene, die Moskau nach einem US-amerikanischen Überraschungsangriff noch für einen Zweitschlag zur Verfügung stehen würden. Der Raketenschild ist also ein entscheidender Faktor in dem Bemühen, eine nukleare Erstschlagskapazität gegenüber Russland aufzubauen. Zwar ist zunächst geplant, nur zehn Abfangraketen in Polen zu stationieren. Doch sofern das System erst einmal errichtet ist, könnte deren Zahl leicht erhöht werden.

Dass diese strategischen Überlegungen bei derzeitigen amerikanischen Rüstungsanstrengungen tatsächlich eine Rolle spielen, zeigt ein im April/Mai 2006 in den foreign affairs publizierter Aufsatz. Der Essay trägt den Titel: „The Rise of U.S. Nuclear Primacy“[20] („Der Aufstieg der USA zur nuklearen Vorherrschaft“). Die beiden Autoren Keir A. Lieber und Darley G. Press stellten sich darin die Frage, ob China oder Russland im Falle eines nuklearen Überraschungsangriff durch die USA in der Lage wären, mit einem Zweitschlag zu reagieren. Um zu ermitteln, wie sehr sich das nukleare Gleichgewicht seit dem Ende des Kalten Krieges verschoben hat, ließen die Autoren im Computermodell einen US-amerikanischen Überraschungsangriff auf Russland simulieren. Sie benutzten dabei die Methoden, die im Verteidigungsministerium seit Dekaden benutzt werden. Das Ergebnis war, dass die russischen Verteidigungskräfte weitgehend radarblind sind und selbst einen von U-Booten im Pazifik aus begonnenen Angriff wahrscheinlich erst bemerken würden, wenn die ersten Raketen Moskau erreichten. Selbst wenn ein Überraschungsangriff der USA darauf verzichten würde, zu allererst die Radaranlagen und die Kommandozentralen auszuschalten, wären Lieber und Press zufolge die USA in der Lage, circa 99 Prozent der russischen Atomraketen im Erstschlag zu zerstören. Das eine Prozent der verbliebenen russischen Atomraketen, die Moskau in einem Zweitschlag noch abfeuern könnte, würde wahrscheinlich – so die Autoren – durch das Raketenschild neutralisiert werden.

Dieser Artikel führt vor Augen, worin die eigentliche Funktion des Raketenschildes besteht. Er soll die USA in die Lage versetzen, einen Atomkrieg zu führen, ohne selbst von Gegenschlägen getroffen zu werden. Wäre diese Fähigkeit erst einmal erworben, ließe sie sich als geopolitisches Druckmittel verwenden, um Interessen durchzusetzen. Zudem könnte eine absolute nukleare Überlegenheit dazu dienen, einen Machtverlust auf wirtschaftlichem oder finanzpolitischem Gebiet auszugleichen. Dass es sich dabei um mehr als nur eine pessimistische Befürchtung handelt, zeigen noch andere Aspekte der amerikanischen Rüstungsanstrengungen.

So entwickeln die USA derzeit Atomwaffen mit begrenzter Sprengkraft. Diese so genannten „Mini Nukes“ werden wiederum zu speziellen bunkerbrechenden Waffen weiterentwickelt. Das Besondere an diesen Waffen ist, dass sie mit hoher Geschwindigkeit auftreffen und sich einige Meter tief in die Erde bohren können, um auf diese Weise im Idealfall unterirdisch zu explodieren.[21] Offiziell begründet man die Entwicklung dieser neuen Generation von Atomwaffen mit dem Ziel, nur auf diese Weise Bunkeranlagen tief unter der Erde – wie etwa im Iran – mittels der entstehenden Druckwelle zerstören zu können.[22] Doch diese Begründung ist zweischneidig. Zum einen hat man damit indirekt zugegeben, dass die schon öfter von Journalisten aufgedeckten Pläne[23], in einem möglichen zukünftigen Irankrieg Atomwaffen einzusetzen, durchaus ernst zu nehmen sind. Zum anderen besitzt nicht nur der Iran solche Bunker. Auch entscheidende Kommandostrukturen der russischen Nuklearstreitkräfte befinden sich in unterirdischen Bunkeranlagen. Diese liegen so tief, dass sie mit oberirdisch explodierenden Atomwaffen nicht zerstört werden können. Die Entscheidung, bunkerbrechende Atombomben zu entwickeln, könnte somit als Teil der strategischen Bemühungen bewertet werden, auf die auch schon der US-amerikanische Raketenschild abzielt. Nämlich durch die Fähigkeit, unterirdische Kommandostrukturen präventiv zu zerstören, eine nukleare Erstschlagskapazität zu erwerben.

Aber auch unabhängig davon bedeutet die Entwicklung von Atomwaffen mit begrenzter Sprengkraft, dass auf diese Weise die negativen Folgen eines Atomkriegs – wie zum Beispiel die Verstrahlung der Atmosphäre oder die Entstehung eines nuklearen Winters – stark gemildert werden. Auf diese Weise sinkt aber auch die Hemmschwelle zum Einsatz des nuklearen Feuers. Schließlich fügen sich auch die Bemühungen der USA, Waffensysteme im Weltraum zu stationieren, in die Bemühungen ein, eine nukleare Erstschlagskapazität zu erwerben. Denn die Fähigkeit, feindliche Satelliten zu zerstören, ist eine wesentliche Voraussetzung, die kommunikativen Fähigkeiten des Gegners lahm zu legen.

Wie sehr diese Rüstungsstrategie der USA die russische Regierung beunruhigt, machen einige Sätze deutlich, die Putin während des G 8 Gipfels in Heiligendamm auf einer Pressekonferenz an die versammelten Reporter richtete. Die Brisanz seiner Äußerung wird dadurch unterstrichen, dass die gesamte Pressekonferenz in der deutschen und amerikanischen Presse zensiert worden ist und die Leser deutscher Zeitungen bis heute gar nicht erfahren haben, dass diese Pressekonferenz überhaupt stattgefunden hat.

„Tatsächlich entwickelt sich gerade ein Wettrüsten. Aber waren wir es, die sich aus dem ABM-Vertrag zurückgezogen haben? (…) Wir haben ihnen bereits vor zwei Jahren gesagt: „Tut das nicht, Ihr braucht dies nicht zu tun. (…) Ihr zerstört das System der internationalen Sicherheit. (…) Nein, sie hörten nicht auf uns. Dann hörten wir, dass sie Nuklearwaffen mit begrenzter Sprengkraft entwickelten, und sie arbeiten weiter daran, diese Sprengköpfe zu entwickeln. (…) Aber vielleicht wäre es besser, nach anderen Wegen und Mitteln Ausschau zu halten, (…) anstatt Atomwaffen mit begrenzter Sprengkraft zu entwickeln, und damit die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen zu senken und die Menschheit auf diese Weise an den Rand einer nuklearen Katastrophe zu bringen. Aber sie hören nicht auf uns. Wir sagen: Installiert keine Waffen im Weltraum. Wir wollen das nicht tun. Nein, es geht weiter: „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“. Was ist das? Ist das ein Dialog oder die Suche nach einem Kompromiss?“[24]

„Ich möchte nicht, dass Sie der Illusion erliegen, dass wir irgendjemanden nicht mehr lieben. Aber manchmal denke ich bei mir: Warum tun sie all dieses? Warum versuchen unsere amerikanischen Partner so hartnäckig, ein Raketenabwehrsystem in Europa aufzustellen, wo es doch – und dies ist absolut offensichtlich – nicht erforderlich ist, iranische Raketen oder – noch offensichtlicher – nordkoreanische Raketen abzuwehren? (Wir wissen alle, wo Nordkorea liegt und welche Reichweite diese Raketen haben müssten, um Europa erreichen zu können.) Also ist das Abwehrsystem eindeutig nicht gegen diese Länder gerichtet, und es ist eindeutig nicht gegen Russland gerichtet, denn es ist für jedermann zu sehen, dass Russland keinerlei Vorbereitungen trifft, irgendjemanden anzugreifen. Also warum?“24

„Wir sagten, dass wir nicht die Ressourcen und nicht den Wunsch haben, ein solches System (Raketenabwehrsystem) aufzustellen. Aber als Profis verstehen wir, dass eine Illusion von Sicherheit entsteht, wenn die eine Seite ein solches System hat und die andere nicht und dass dies die Möglichkeit eines nuklearen Konfliktes erhöht.“ (…) „Und wenn dieses Gleichgewicht in der Welt schließlich zerstört wird, dann wird es eine Katastrophe nicht nur für Russland, sondern auch für die gesamte Welt sein.“ 24

Die Vorgeschichte des neuen Kalten Krieges

Diese Zitate, die an sich schon ein Dokument des neuen Kalten Krieges sind, werfen die Frage auf, wodurch diese Entwicklung eigentlich verursacht wurde? Welche Faktoren haben dazu geführt, dass der Kalte Krieg trotz des Sieges des Kapitalismus in eine zweite Runde geht? Oder hatte er vielleicht niemals aufgehört?

Das Russland-Kapitel in Brzezinskis Hauptwerk fällt jedenfalls durch eine sehr polemische Überschrift auf. Er bezeichnet darin Russland als „Das schwarze Loch“. Dieser abwertende Titel hat inhaltliche Konsequenzen für die Bestimmung der Rolle, die Brzezinski Russland zuspricht. Es fällt auf, dass er Russland nach der Selbstauflösung der Sowjetunion kaum noch das Recht auf einen eigenen geopolitischen Einflussbereich zugesteht. Auch Russlands Bemühen, auf der Basis wirtschaftlicher Kooperationen und militärischer Zusammenarbeit Einfluss in einigen der ehemaligen Sowjetrepubliken zu bewahren, wird von Brzezinski als „geostrategische Wunschvorstellung“[25] verworfen. Stattdessen entwirft er in seinem Buch das Bild eines zukünftigen Russland, das seine Bestrebungen nach geopolitisch selbstständigem Handeln weitgehend aufgegeben hat und sich stattdessen in Fragen der Sicherheitspolitik der NATO und in Fragen der Wirtschaftspolitik dem IWF, der Weltbank und ähnlichen Institutionen unterordnet. Die Tatsache, dass russische Außenpolitiker Weißrussland, die Ukraine und andere ehemalige Sowjetrepubliken als ihre natürliche Einflusssphäre ansehen, bewertet Brzezinski unterschiedslos als „imperiale Restauration“[26] oder „imperialistische Propaganda“[27]. Versuche, in Zukunft eine geopolitisch bedeutende Position zurück zu erlangen, nennt er „nutzlose Bemühunge“"27. An einer Stelle schlägt Brzezinski sogar eine Teilung Russlands in drei oder vier Teile vor: „Einem lockerer konföderierten Russland – bestehend aus einem europäischen Russland, einer sibirischen Republik und einer fernöstlichen Republik – fiele es auch leichter, engere Wirtschaftsbeziehungen mit Europa, den neuen Staaten Zentralasiens und dem Osten zu pflegen…“.[28] Die unverhohlene Arroganz, mit der sich Brzezinski 1997 über Russland äußerte, zeigt, dass er dem ehemaligen Gegner im Kalten Krieg allenfalls die Rolle einer Kolonie bzw. eines Drittweltlandes zuordnet. Lapidar heißt es an einer anderen Stelle: „Gebietseinbußen sind somit nicht Russlands Hauptproblem.“27 Andererseits spiegeln diese Äußerungen aber auch Russlands reale Stellung nach einer ganzen Serie wirtschaftlicher Rezessionen wider, die 1998 mit der Abwertung des Rubels einen ihrer Höhepunkte erreichte. Russland war seinerzeit hoch verschuldet und hat einen Teil seiner wirtschaftspolitischen Souveränität wie ein Land der Dritten Welt an den IWF und die Weltbank abgeben müssen. So beendete Brzezinski 1997 sein Kapitel über Russland mit den Worten: "Tatsächlich besteht das Dilemma für Russland nicht mehr darin, eine geopolitische Wahl zu treffen, denn im Grunde genommen geht es ums Überleben.“[29] Mittlerweile hat sich gezeigt, dass Russland in der Tat überlebt hat und seine geographische Ausdehnung zu bewahren vermochte. Russland ist nicht länger jenes „schwarzes Loch“, in dem ausländische Mächte nach Belieben schalten und walten können. Und so wird zehn Jahre nach Brzezinskis Analysen deutlich, wie sehr sich die Prognosen amerikanischer Außenpolitik geirrt haben. Doch dieser Entwicklung trägt Brzezinski in seinem jüngsten Buch kaum Rechnung. Nach wie vor strebt er eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine an. Und nach wie vor bewertet er das russische Bemühen, Einfluss in der Ukraine zu bewahren, als Imperialismus.[30] Doch die Ukraine war über 200 Jahre lang mit Russland verbunden. Nahezu 20 Prozent der Ukrainer sind Russen. Hinzu kommen zahlreiche Bürger gemischter Herkunft. Und schließlich wird in weiten Teilen des Landes Russisch gesprochen. Doch der zur Zeit Stalins in der Ukraine aufgewachsene Brzezinski hat auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges in Washington Karriere gemacht. Daraus resultiert eine negative gedankliche Fixierung auf Russland. Diese tritt deutlich zu Tage, wenn er die Ukraine als Kopf Russlands bezeichnet, ohne den „Russland nicht zu Europa“[31] gehören kann.

Die Politik der maximalen Schwächung

Die Selbstauflösung des Warschauer Paktes war nicht nur eine einseitige Kapitulation. Es war eine Politik, die die richtigen Schlüsse aus den internen wirtschaftlichen Schwierigkeiten gezogen hatte. Die Alternative wäre gewesen, dass russische „Neokonservative“ ihr Heil in einer verschärften militärischen Konfrontation gesucht hätten. Diese Möglichkeit erhob kurz ihr Haupt, als am 19.8.1991 eine Gruppe aus der alten kommunistischen Garde für einige Tage die Macht an sich riss. Gorbatschows Politik erwies sich jedoch als fähig, aus dem engen Gedankenkreis geopolitischer Interessen herauszutreten und eine ganz neue Situation herzustellen.

Es gab mehrere Möglichkeiten, wie der Westen auf die von Michail Gorbatschow eingeleitete Politik hätte reagieren können. Eine Möglichkeit wäre gewesen, Russland tatkräftig beim Übergang in das westliche Gesellschaftsmodell zu helfen. Im Interesse einer gesunden demokratischen Entwicklung wäre es von Bedeutung gewesen, den vollkommenen Zusammenbruch der sozialen Sicherheitssysteme – wie er sich dann ereignete – zu vermeiden. Dies hätte bedeutet, dass man Russland ausreichend Kredite gewährt und dem Land erlaubt hätte, sich beim Übergang in den Kapitalismus auch an der damals noch in Deutschland praktizierten sozialen Marktwirtschaft zu orientieren. Kurz: Man hätte Gorbatschows gewaltige Vorleistungen in der Friedenspolitik mit einem Entgegenkommen beantworten müssen. Diese Politik hätte beinhaltet, dass man Russland nach seiner Abkehr vom Kommunismus als zukünftigen geopolitischen Akteur ernst genommen hätte, dass man bereit gewesen wäre, ein demokratisches Russland tatsächlich in die Gestaltung einer zukünftigen Weltordnung mit einzubeziehen. Die zukünftige Machtverteilung der dann entstandenen Weltordnung hätte etwa der der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats entsprochen. Die USA wären in dieser Konstellation die mit Abstand bedeutendste, aber wahrscheinlich nicht die einzige Macht geblieben, und möglicherweise hätte dies schließlich zu einer fundamentalen Neugestaltung oder gar Auflösung der NATO geführt.

Doch der Weg, der stattdessen beschritten wurde, war ein gänzlich anderer. Das Augenmerk der USA richtete sich weniger auf die Demokratisierung Russlands als vielmehr auf seine Kapitalisierung. Und zwar nicht im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft oder eines halbwegs erträglichen Übergangs, sondern im Sinne einer neoliberalen Schocktherapie. Ziel war von Anfang an eine möglichst starke Schwächung Russlands. Bereits auf dem G7-Gipfel 1991 hatte man von Gorbatschow gefordert, die Transformation mit wirtschaftlichen Radikalmaßnahmen zuzulassen. Durch die Erfahrungen in Lateinamerika war bereits bekannt, dass die damit gemeinte Wirtschaftsreform vor allem zur Etablierung eines unregulierten Kapitalismus führen würde, der mit enormen gesellschaftlichen Verwerfungen einhergeht. The Economist forderte deshalb ganz folgerichtig, dass Gorbatschow sich bei seinen Reformen an dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet orientieren sollte.[32] Dieses Beispiel macht deutlich, dass mit der Freiheit, mit der man Russland beglücken wollte, vor allem die Freiheit des Geldes gemeint war.

Als die russische Regierung sich kurz nach der Amtseinführung Jelzins den Ratschlägen der amerikanischen Wirtschaftsberater unter Führung von Jeffrey Sachs fügte, hielten die USA Russland sogar noch die in Aussicht gestellten Kredite vor.[33] Auf diese Weise wurde eines der waghalsigsten wirtschaftlichen Experimente fast ohne finanzielle Absicherung durchgeführt. Das Resultat ließ nicht lange auf sich warten. Die Privatisierung von Staatsbetrieben und die Freigabe der Preise sorgte dafür, dass innerhalb eines Jahres der Konsum um 40 Prozent sank und ein Drittel der Bevölkerung unter die Armutsgrenze rutschte. Während viele russische Bürger sich gezwungen sahen, ihr Hab und Gut auf Marktplätzen zu verkaufen, die durchschnittliche Lebenserwartung auf 57 Jahre sank, entstanden zugleich 17 neue Milliardäre. Der russische Staat stürzte in eine seiner schwersten Krisen. Was folgte, war eine jahrelang anhaltende Kapitalflucht aus Russland, von der letztlich westliche Anleger profitierten, während zugleich der russische Staat seinen Beamten keine Gehälter mehr auszahlen konnte. 1995 fragte das Wall Street Journal seine Leser, ob sie nach Investitionsmöglichkeiten suchten, die in drei Jahren 2000 Prozent abwerfen können. „Nur ein Aktienmarkt“, so die Zeitung, „bietet diese Aussicht – Russland“[34]. Diese enormen Renditen kamen zustande, weil das russische Staatseigentum zu Schleuderpreisen verkauft wurde. Norilsk Nickel, ein Konzern, der seinerzeit für ein Fünftel der weltweiten Nickelproduktion zuständig war, wurde für 170 Millionen Dollar verscherbelt. Kurze Zeit später sollten die Profite des Unternehmens 1,5 Milliarden Dollar pro Jahr erreichen. Für den Ölgiganten Yukos, der mehr Öl als der Staat Kuwait kontrollierte, wurden lediglich 309 Millionen Dollar bezahlt.[35] Dass der russische Staat jedoch verkaufen musste und notfalls zu Billigpreisen, dafür war gesorgt. Denn während im Lande die sozialen Sicherungssysteme zusammenbrachen, wurde Russland von Seiten des Westens jede ernst gemeinte finanzielle Hilfe vorenthalten.

Die amerikanische Russlandpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges ähnelte in vielerlei Hinsicht der französischen Außenpolitik gegenüber Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Genau wie Frankreich sich damals dafür einsetzte, durch hoch veranschlagte Reparationszahlungen und die später erfolgte Besetzung des Ruhrgebiets eine dauerhafte Schwächung seines geopolitischen Konkurrenten zu erreichen, wünschten sich die USA nach dem Ende des Kalten Krieges zwar kein instabiles, aber doch ein möglichst schwaches Russland. Man wendete die Techniken des bekannten Schuldenimperialismus an und war vor allem daran interessiert, Russland in einen billigen und von ausländischem Kapital abhängigen Rohstoffexporteur zu verwandeln. Einen besonders klaren Ausdruck fand dieser Grundsatz US-amerikanischer Außenpolitik in Brzezinskis Idee einer Drei- oder Vierteilung des Landes. Die damals eingeleitete Politik führte zu der geopolitischen Situation, die sich heute abzeichnet.

Der neue Kalte Krieg – ein Ergebnis der Geographie?

Der Grund für diese politische Entscheidung ist in der geographischen Lage Russlands zu suchen. In „The Grand Chessboard“ findet sich eine Karte, auf der Brzezinski das „eurasische Schachbrett“ darstellt. Darin ist der Kontinent in vier Regionen – oder um bei der Schachmetapher zu bleiben – in vier Figuren eingeteilt.

Eine Figur auf dem eurasischen Schachbrett steht für Europa etwa in der Größe der heutigen EU, eine zweite für China einschließlich einiger angrenzender Staaten, die dritte für den Nahen und Mittleren Osten mit Teilen Zentralasiens. Doch die mit Abstand größte Figur – die Brzezinski die mittlere Region nennt – stellt Russland dar. Der geopolitische Theoretiker Harold Mackinder hatte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts eine ähnliche Einteilung vorgenommen. Darin hatte er das damalige Russland als „Zentralregion“ bzw. „Herzland“ bezeichnet. Eurasien wiederum wurde von ihm als „Welteninsel“ bezeichnet. Berühmt geworden ist folgendes Zitat von Harold Mackinder:

Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Herzland (Sibirien/Zentralasien),

wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel (Eurasien),

wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.

Für Mackinder war vor 100 Jahren noch der Gegensatz zwischen Land- und Seemacht ein zentrales Reflektionsmoment seiner geopolitischen Analysen. Heute, im Zeitalter des internationalen Flugverkehrs, hat die Bedeutung dieses Moments allerdings nachgelassen, was Brzezinski auch andeutet. Doch in der zentralen Einschätzung Eurasiens als dem eigentlichen Zentrum der Welt berühren sich Brzezinskis geopolitische Analysen mit jenen Mackinders. Wie Mackinder im Hinblick auf das britische Empire sieht auch Brzezinski knapp 100 Jahre später den Machtkampf um die Vorherrschaft Eurasiens als die Schicksalsfrage jedes herrschenden Imperiums. Denn auch die USA haben – wie das britische Empire damals – eine geographische Lage, die eher abseits der so genannten „Welteninsel“ (Eurasien) angesiedelt ist. Die USA müssen als nicht-eurasische Nation ihre Weltmachtposition auf einem Kontinent durchsetzen und verteidigen, auf dem sie nicht zu Hause sind. Sie könnten somit leichter als andere Staaten aus Eurasien verdrängt werden. Dies wiederum zwingt die amerikanische Außenpolitik zu einer umso größeren und gewissermaßen präventiven Einflussnahme auf dem asiatischen und europäischen Kontinent.

Russland ist somit in den Augen US-amerikanischer Geopolitiker die zentrale Figur auf dem eurasischen Schachbrett. Die Überwindung der ideologischen Konkurrenz bedeutete nicht, dass auch die geographische Rivalität überwunden wurde. Im Gegenteil: Die geographische Lage Russlands ist aus Sicht der Vereinigten Staaten derart privilegiert, dass eine präventive Schwächung Russlands ins Auge gefasst wurde.

Die USA sind die größte Macht außerhalb Eurasiens. Wollen sie den eurasischen Kontinent dominieren, so geraten sie automatisch in einen Interessenkonflikt mit Russland. Dabei ist Russland weit davon entfernt, die stärkste Macht auf dem eurasischen Kontinent zu sein. Wirtschaftlich wird Russland nie mit China und Europa konkurrieren können. Allerdings ist das Land durch seine geographische Position im Zentrum der eurasischen Landmasse und seinen Rohstoffreichtum langfristig in der Lage, eurasische Kooperationen zu begründen. So könnten etwa vertiefte Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und der EU letztere in die Lage versetzen, eine transatlantische Orientierung durch eine kontinentale zu ergänzen. Dies wiederum würde einen erheblichen Unabhängigkeitsgewinn Europas gegenüber den USA bedeuten. Für eine zunehmende Ost-Orientierung der EU spricht auch, dass russische und europäische Interessen langfristig komplementär sind. Von russischer Seite besteht eine große Nachfrage nach europäischer Technologie, während es Europa umgekehrt in der Zeit nach Peak Oil schwer gelingen wird, ohne Russland seine Energieversorgung sicherzustellen.

In ganz ähnlicher Weise könnte ein Bündnis zwischen Russland und China, wie es sich bereits in der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) langsam herausbildet, langfristig ein zweites weltwirtschaftliches Zentrum in Asien begründen. Würde dies geschehen, so wäre es für die USA zunehmend schwierig, ihren Einfluss im Nahen Osten und Zentralasien zu wahren. Die Vormachtstellung der USA auf dem eurasischen Kontinent ist also in mehrfacher Hinsicht bedroht. Und stets kommt Russland dabei die Rolle eines hochdynamischen Akteurs zu. Da es als einziges Land in der Lage ist, den Osten und Westen Eurasiens zu verbinden, kann es bei der Entstehung einer eurasischen Interessengemeinschaft katalytisch wirken. Verstärkt wird diese Position noch dadurch, dass Russland das einzige Industrieland ist, das von der durch Peak Oil ausgelösten Energiekrise zunächst nicht betroffen sein wird.

Die geographisch begründeten Interessengegensätze zwischen Russland und den USA erklären möglicherweise die amerikanische Russlandpolitik seit dem Fall der Berliner Mauer. Der neue Kalte Krieg erweist sich insofern als die Fortsetzung des alten, als dieser nie wirklich aufgehört hat. Der Kalte Krieg wurde fortgesetzt, weil die USA mit dem Fall der Berliner Mauer nur eines ihrer beiden geopolitischen Ziele erreicht haben. Das erste Ziel war zweifellos der Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus. Doch das zweite Ziel – und dies wird erst jetzt anhand der aktuellen Politik der USA deutlich – war die unangefochtene Vormachtstellung der USA in Eurasien. Die amerikanischen Eliten glaubten, dass es ihnen und den USA vorherbestimmt sei, die Welt in eine post-nationalstaatliche Ordnung zu überführen, und dass zur Verwirklichung dieses Ziels die Vormachtstellung in Eurasien eine unabdingbare Voraussetzung sei.

Doch dieser Traum amerikanischer Allmacht, den Brzezinski 1997 wie selbstverständlich als legitim voraussetzt, ist in den letzten Jahren zunehmend unrealistisch geworden. Es rückt durch den rasanten Aufstieg nicht nur Russlands, sondern auch Chinas und Indiens in immer weitere Ferne. Es mutet absurd an, dass ausgerechnet in einer Zeit, da die so genannten BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) ein enormes Wirtschaftswachstum generieren, die NATO erstmals ein weltweites Gewaltmonopol für sich beansprucht. Brzezinski ging 1997 noch davon aus, dass die USA für den Zeitraum einer Generation die einzige wirkliche Weltmacht bleiben könnten. Er sah die USA in einer weltweit unangefochtenen Schiedsrichterposition. Doch bereits zehn Jahre nach Brzezinskis außenpolitischer Analyse sind die USA mit der Erschöpfung ihrer imperialen Kräfte konfrontiert. Wie soll es den USA erst möglich sein, einen fremden Kontinent gegenüber einem selbstbewussten Russland und einem erstarkten China zu dominieren. Die napoleonischen Kriege und der Zweite Weltkrieg sind zudem Beispiele dafür, dass auch schon in der Vergangenheit alle Versuche, vom Rande Eurasiens in sein Zentrum vorzustoßen, stets gescheitert sind. Wie werden sich die USA verhalten, wenn auch sie von diesem Schicksal eingeholt werden?

Zwei mögliche Szenarien zeichnen sich ab

Das hängt davon ab, ob es sich bei den von Brzezinski 1997 formulierten Zielsetzungen um solche handelt, die fallen gelassen werden können, wenn sie sich als unrealistisch erweisen, oder ob es sich ganz im Gegenteil um Ziele handelt, die so sehr mit der Identität der USA, ihren Institutionen und ihren politischen Führungselite verwachsen sind, dass sie weder relativiert noch aufgegeben werden können.

Geht man vom günstigsten Fall aus, würden die amerikanischen Geopolitiker erkennen, dass die 1997 von Brzezinski formulierten Ziele sich als nicht erreichbar erwiesen haben und dass die europäischen Politiker einsehen, eine Neuauflage dieser Pläne in Gestalt einer transatlantischen Zusammenarbeit liegt letztlich nicht im europäischen Interesse. Es ist davon auszugehen, dass der Dollar in den nächsten fünf Jahren seine Position als vorherrschende Weltwährung einbüßen wird. Damit aber verlieren die USA auch einen erheblichen Teil ihrer Seignoragevorteile, die wiederum die finanzielle Basis ihrer enormen Rüstungsausgaben bilden. Viele der militärischen Basen außerhalb der USA könnten dann nicht länger finanziert werden. Fortan müssten sich die USA ihre Weltmachtposition mit eurasischen Konkurrenten wie China, Russland und Europa teilen. Es wäre gut möglich, dass sie in Folge ihrer bisherigen Politik in Zentralasien ihren Einfluss in dieser Region gänzlich verlieren.

Der Verlust der Position als einzige verbliebene Supermacht bedeutet aber auch, dass die allmähliche Entstehung einer postnationalstaatlichen Weltordnung nicht mehr in dem Maße von den USA alleine gestaltet werden kann, wie Brzezinski dies noch 1997 für möglich gehalten hat. Es ist auch fraglich, ob eine vertiefte transatlantische Kooperation hier eine Alternative ist. Der grundsätzliche Charakter der Welt im 21. Jahrhundert kann wahrscheinlich nicht mehr im selben Maße von den USA oder dem Westen geprägt werden wie in den zurückliegenden Jahrzehnten. In dem Maße, wie unterschiedliche Kontinente und Kulturkreise sich hinsichtlich eines übernationales Rahmenwerkes der zukünftigen geopolitischen Ordnung einig werden müssen, entsteht auch Raum für alternative Entwürfe. Möglicherweise würde die Vorrangstellung des Marktes als zentrale Instanz der Vergesellschaftung, die mit der kulturellen Vorherrschaft der USA sehr eng verflochten ist, erneut infrage gestellt werden. An die Stelle einer von den USA dirigierten Globalisierung würde ein Prozess der offenen Aushandlung zwischen ungefähr gleichstarken Mächten treten. Jedenfalls dürfte es in absehbarer Zeit keinen Staat geben, der die Welt in ähnlich starker Weise dominieren könnte, wie dies die USA über einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert vermochten. In diesem Prozess der offenen Aushandlung wäre der Westen mit seiner eigenen Außenwahrnehmung konfrontiert. Die heute noch allgemein akzeptierte Vorstellung vom „guten Abendland“ würde erheblich ins Wanken geraten, wenn die Ausbeutung der Dritten Welt, die Praxis des Schuldenimperialismus und die Unterstützung von Diktaturen einmal Gegenstand einer geschichtlichen Erinnerung, ja möglicherweise sogar gerichtlichen Aufarbeitung werden würden.

Doch vielleicht ist genau dies die Zukunftsprognose, gegen die Brzezinskis Plan einer US-amerikanischen Vorherrschaft in Eurasien letzten Endes gerichtet ist. Und möglicherweise gilt dies nicht nur für Brzezinski, sondern für große Teile der amerikanischen Elite. Es ist nicht auszuschließen, dass der Glaube an die legitime Vorherrschaft der USA so eng mit dem Identitätsgefühl ihrer Elite verflochten ist, dass auch ein offensichtliches Scheitern dieser Politik nicht zu einer neuen Orientierung führt. Einige Gedanken, die Brzezinski in seinem jüngsten Buch Second Chance formulierte und die den Plan einer Vorherrschaft über Eurasien durch eine vertiefte amerikanisch-europäische Zusammenarbeit retten sollen, deuten daraufhin.[36] Dies scheint der letzte Strohhalm zu sein, nach dem er greift, um den Gedanken abzuwehren, dass die Vorherrschaft des Westens über ganz Eurasien weder politisch noch wirtschaftlich und erst recht nicht militärisch durchsetzbar ist.

Welchen Verlauf würde die Geschichte nehmen, wenn die amerikanischen und europäischen Geopolitiker – ungeachtet der neuen Machtverteilung – konsequent an jenem Plan der Vorherrschaft über Eurasien festhalten würden? In diesem Fall müsste es zu einem Zusammenstoß verschiedener eurasischer Mächte kommen. Dieser Zusammenstoß könnte sich in Form eines Kalten oder Heißen Krieges vollziehen. Ein Kalter Krieg wäre verbunden mit der Dämonisierung des Gegners in der Öffentlichkeit, wie sie sich gegenüber Russland bereits heute abzeichnet. Außerdem geht mit einem Kalten Krieg auch immer die Gefahr einer versehentlichen Auslösung eines militärischen Ernstfalls durch menschliches oder technisches Versagen einher. Da ein neuer Kalter Krieg sich nicht im Gleichgewicht des Schreckens, sondern in einer militärischen und technologischen Asymmetrie vollziehen würde, wäre damit auch die Gefahr einer Auslösung des Krieges ungleich höher als im ersten Kalten Krieg. So könnten sich die Inhaber eines Raketenschildes z.B. in falscher Sicherheit wiegen und den Krieg im Zuge einer diplomatischen Krise auslösen. Umgekehrt könnte die unterlegene Seite – die über keinen Raketenschild verfügt – den Krieg präventiv beginnen, sofern sie davon überzeugt ist, dass die andere Seite dies ohnehin langfristig plant. Der präventive Kriegsbeginn wäre dann der asymmetrische Ausgleich für das nicht vorhandene Raketenschild.

Doch ein Zusammenstoß verschiedener eurasischer Akteure könnte sich auch in Gestalt eines Stellvertreterkrieges ereignen. Ort eines solchen Zusammenstoßes wären mit hoher Wahrscheinlichkeit die ölreichen Regionen des Nahen Ostens und Zentralasiens. Wenn die durch Peak Oil hervorgerufene Energiekrise erst einmal begonnen hat, dürften diese Regionen endgültig ins Fadenkreuz aller Mächte geraten. Brzezinski nennt diese Region „den mittleren Raum“ oder auch „den eurasischen Balkan“. Für ihn ist sie allein auf Grund ihrer geographischen Lage und unabhängig von ihren Ölvorräten Dreh- und Angelpunkt jeglicher Vorherrschaft in Eurasien. Die Bezeichnung „eurasischer Balkan“ bezieht sich auf die starke ethnische Fragmentierung in diesem Gebiet. Die wichtigsten Ethnien, die sich über die ehemaligen südlichen Sowjetrepubliken westlich und östlich des Kaspischen Meeres verteilen, sind Usbeken, Kasachen, Tadschiken, Russen, Ukrainer, Georgier, Turkmenen und Kirgisen. Die ethnisch homogensten Staaten sind Armenien und Aserbaidschan, während östlich des Kaspischen Meeres die ethnische Fragmentierung sehr weit geht. Auch Iran, Afghanistan und Pakistan weisen viele ethnische Minderheiten auf. Libanon und Irak sind wiederum in schiitische und sunnitische Bevölkerungsgruppen geteilt.

Aufgrund dieser Situation ist es sehr wahrscheinlich, dass die geopolitische Konkurrenz verschiedener Mächte in dieser Region ähnlich ausgetragen werden würde wie einst auf dem europäischen Balkan. Auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien machten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Russland, Österreich-Ungarn, Deutschland, Frankreich und Großbritannien gegenseitig Konkurrenz. Dabei bedienten sich die Großmächte der in dieser Region vorgefundenen ethnischen Konflikte. Die Instabilität dieser Region lud ausländische Großmächte dazu ein, durch Parteibildungen und Einflussnahme ihre Interessen gegeneinander durchzusetzen. Der europäische Balkan ist ein Beispiel dafür, dass in ethnisch gemischten Regionen, in denen sich zudem die Einflusssphären verschiedener Großmächte überschneiden und kreuzen, Bürgerkriege leicht entfacht werden können.

Auf dem eurasischen Balkan konkurrieren weit mehr Mächte miteinander als einst auf dem europäischen Balkan. Die wichtigsten Akteure sind Russland, die USA, die Türkei und der Iran. Überdies ist in den letzten Jahren der Einfluss Chinas, Indiens, Pakistans und der EU immer spürbarer geworden. Eine bis zum Äußersten geführte geopolitische Konkurrenz um Einfluss in dieser Region könnte irgendwann das Feuer des Bürgerkrieges entfachen. Ansätze hierfür lassen sich bereits heute in jenen beiden Ländern beobachten, die direkt unter US-amerikanischer Besetzung stehen, nämlich im Irak und in Afghanistan. Insbesondere im Irak könnte es zu einem Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten kommen, wobei die US-amerikanische Besatzungspolitik sich dieser Entwicklung gegenüber nicht neutral verhält: Sie trennt die Religionsgruppen in unterschiedlichen Wohnquartieren und Zeltstädten und erreichtet sogar Mauern zwischen ihnen. Es ist ein bekanntes soziologisches Phänomen, dass solche Maßnahmen das Misstrauen zwischen den Bevölkerungsgruppen eher steigern und das religiöse Sektierertum befördern, als dass sie helfen es einzudämmen. Der US-amerikanische Journalist Seymour Hersh hat deshalb in diesem Zusammenhang seiner Regierung die Praxis „ethnischer Säuberungen“[37] vorgeworfen.

Offen ausgetragene ethnische Konflikte im Irak wären in jedem Fall fatal und könnten leicht auf den ebenfalls in mehrere Völker fragmentierten Iran übergreifen. Ethnische Konflikte in Afghanistan könnten sich wiederum nach Pakistan ausdehnen. In diesem Fall wäre davon auszugehen, dass viele der geopolitischen Akteure in dieser Region in einem solchen Konflikt nicht neutral bleiben würden. Denn die gesamten Grenzziehungen in dieser Region – die seit Jahrzehnten Bestand haben – ständen mit einem Mal in Frage. Ein Wettkampf um zukünftige Einflusszonen würde ausbrechen. Staaten, die bis dahin wenig Einfluss in einem Land besessen haben, könnten darauf spekulieren, durch die Unterstützung einzelner ethnischer oder religiöser Gruppierungen diese Macht nun zu gewinnen. Die Verlockung, auf diese Weise Interessen geltend zu machen, wäre umso größer, je reicher die von einer spezifischen Bevölkerungsgruppe bewohnte Region an Gas- und Ölvorkommen wäre.

Würde die geopolitische Konkurrenz in der Region zwischen Irak, Iran, Afghanistan, Pakistan und einigen ehemaligen Sowjetrepubliken sich tatsächlich zu einer bürgerkriegsähnlichen Situation auswachsen, wären die menschlichen Verluste kaum abzuschätzen. Denn der eurasische Balkan erstreckt sich über ein Gebiet, das mehrere hundert Millionen Menschen umfasst. Der amerikanische Historiker Niall Ferguson hat einem Artikel in Foreign Affairs mit dem Titel: „The Next War of the World“[38] sogar die These vertreten, dass ein solch grenzübergreifender Bürgerkrieg auf dem eurasischen Balkan wahrscheinlich einen neuen Weltkrieg darstellen würde. Ferguson kommt zu dem Schluss, dass die dann zu erwartenden Opferzahlen jene des Zweiten Weltkriegs übersteigen könnten. Die Foreign Affairs werden vom Council on Foreign Relations herausgegeben. Die Veröffentlichung von Fergusons Artikel in dieser Zeitschrift zeigt somit, dass der berühmteste außenpolitische Think Tank der USA einen ausufernden Bürgerkrieg auf dem eurasischen Balkan als eine Möglichkeit ansieht, mit der zu rechnen ist.

Würde eine mächtige Koalition aus verschiedenen Staaten, ähnlich wie die NATO 1999 in Jugoslawien, schließlich als „friedensstiftende“ Macht in einem solchen Konflikt eingreifen, so wäre sie nicht nur in der Position, die Grenzziehungen des Nahen Ostens und Zentralasiens neu zu bestimmen. Eine solche Koalition wäre auch in der Lage, direkten militärischen Einfluss in einem Gebiet auszuüben, das Mackinder einst als das Herzland Eurasiens und damit letztlich der Welt bezeichnet hat. Zusätzlich zu dieser geographischen Schlüsselposition gewänne eine solche Koalition außerdem noch die Kontrolle über einen beträchtlichen Teil der weltweiten Öl- und Gasvorräte, die ebenfalls in dieser Region beheimatet sind. Eine solche „friedensstiftende“ Koalition wäre somit der eigentliche Gewinner in einem solchen Krieg. Sie würde über zwei bedeutende geopolitische Machthebel zugleich verfügen: zum einen über die Kontrolle der ölreichsten Region der Welt und zum anderen die Kontrolle über eine Region, die aus geographischer Sicht den Mittelpunkt der Welt darstellt – ihr Herzland, wie Mackinder es nannte. Wer auch immer eine vollständige Macht über den Nahen Osten und Zentralasien gewinnt, dürfte damit zugleich auch der maßgebliche Hegemon des 21. Jahrhunderts sein. Wer jedoch eine solche vollständige Kontrolle dieser Region anstrebt, gerät damit automatisch in einen Interessenskonflikt mit Russland. Denn Russland beherrscht zurzeit die nördliche Hälfte dieser Region, die entweder Teil des russischen Staatsgebiets ist oder aber in die russische Einflusssphäre fällt.

Kriege kündigen sich in der Berichterstattung an

Dass zukünftige geopolitische Konflikte mit Russland möglicherweise bereits geplant werden, wird nicht nur an dem Streit um den Raketenschild deutlich. Auch die Darstellung Russlands in der deutschen und westlichen Presse hat sich innerhalb kurzer Zeit grundlegend gewandelt. War die Berichterstattung in den neunziger Jahren von der Erleichterung darüber geprägt, dass der Schrecken des Kalten Krieges und damit auch die institutionalisierte Feindschaft in der Presse endgültig vorbei sei, so konnte man in letzter Zeit eine Rückkehr bestimmter Schemata der Berichterstattung aus der Zeit des Kalten Krieges beobachten. Sehr auffällig wurde dies in den Monaten, die den russischen Präsidentschaftswahlen unmittelbar vorausgingen. In der Zeit zwischen Oktober 2007 und April 2008 übertraf sich die etablierte Presse gegenseitig mit Meldungen, die Parallelen zwischen dem heutigen Russland und der ehemaligen Sowjetunion herstellten. Dass sich die russische Gesellschaft seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion tiefgreifend geändert, sowie eine Liberalisierung der Lebensweise stattgefunden hat und eine Rückkehr zu einem diktatorischen Gesellschaftsmodell nicht ohne weiteres denkbar ist, wird von der deutschen Presse systematisch ausgeblendet. Hinzu kommt, dass, sobald Interessenskonflikte zwischen Russland und dem Westen zur Sprache kommen, die russische Sicht der Dinge kaum erwähnt wird. Statt die wechselseitigen Interessenskonflikte zu analysieren, wird Russland als ein Land porträtiert, dessen Ansprüche an den Westen in der Regel überzogen sind und sich nicht begründen lassen. Russland, so lautet das Fazit, ist mit Drohgebärden auf die Weltbühne zurückgekehrt.

Dass das Russlandbild der deutschen Öffentlichkeit sich gegenwärtig tatsächlich wieder dem Tiefpunkt annähert, den es zu Hochzeiten des Kalten Krieges schon einmal innehatte, macht ein kurzer Blick auf die Überschriften deutlich, die in den Monaten vor den russischen Präsidentschaftswahlen in der deutschen Presse zu lesen waren: „Der ‚lupenreine Demokrat’ und seine russische Zuchtanstalt“ (Stern), „Putin plustert sich auf“ (taz), „Wladimir Putin raubt Russland die Freiheit" (Welt), „Russlands Neonazis: schon Kinder heben die Hand zum Hitler-Gruß“ (Spiegel), usw. Immer wieder erscheinen Artikel, die Russland in die Nähe zur einstigen Sowjetunion rücken. So unterstellte die Süddeutsche Zeitung Putin ein Geschichtsbild, das „Nein zu Jelzin (und) Ja zu Stalin“ sagt. Dass der russische Präsident einige Monate später eine Gedenkstätte für Stalin-Opfer besuchte und dabei den stalinistischen Terror als eine „Tragödie für Russland“[39] bezeichnete, wurde dagegen von der SZ nicht berichtet. Ganz ähnlich verfährt die von der Bremer Forschungsstelle für Osteuropa herausgegebene Zeitschrift „Russlandanalysen“. In ihrer Dezemberausgabe des Jahres 2007 wurde sogar ein Bezug zur deutschen Vergangenheit hergestellt. Die Zeitung kommt zu dem Schluss, dass sich Russland „am Rande des Faschismus“ befindet. Angesichts der „Putin-Bewegung“, so Heinrich Vogel, der zwischen 1972–76 das Osteuropa-Institut in München geleitet hat, falle es schwer, „Erinnerungen an die Propaganda der Nationalsozialisten beim Referendum nach dem Anschluss in Österreich im Jahr 1938 mit ihrem Motto ‚Dein Ja zum Führer’ zu unterdrücken. Die Techniken faschistischer Massenmanipulation und Mobilisierung haben sich nicht verändert, und ihre Eigendynamik sollte nicht unterschätzt werden.“[40]

Sofern diese Pressedarstellungen ein Gradmesser für den Zustand der russisch-deutschen Beziehungen sind, scheinen sich diese im zurückliegenden Jahr in atemberaubendem Tempo verschlechtert zu haben. Das ist umso außergewöhnlicher, da mit Wladimir Putin ein erklärtermaßen deutschlandfreundlicher Politiker im Kreml regiert. In der Tat waren die russischen Bemühungen um eine Aussöhnung mit Deutschland in Putins Amtszeit so intensiv wie sonst vielleicht nur noch unter der Regentschaft Michail Gorbatschows. Doch die historischen Möglichkeiten einer Annäherung an Russland wurden in der deutschen Presse nie ausgelotet, geschweige denn thematisiert. Das Freundlichste, was sich über die aktuelle Russland-Berichterstattung in der deutschen Presse sagen kann, ist, dass diese extrem einseitig ist, die Komplexität der Verhältnisse unberücksichtigt lässt und positive Nachrichten über Russland systematisch ignoriert. Möglicherweise ist dieses Urteil sogar noch zu freundlich formuliert. Der ehemalige Präsident Michail Gorbatschow sprach Anfang des Jahres in einem offenen Brief an die deutschen Journalisten sogar von einer Pressekampagne, die deutsche Medien gegenüber seinem Land veranstalten würden und von der er sich als ehemaliger Präsident und Wegbereiter der deutschen Wiedervereinigung persönlich getroffen fühle.[41] Und der amerikanische Politiker Paul Craig Roberts, einst Vizefinanzminister unter Ronald Reagan und heute führender Kritiker neokonservativer Regierungspolitik, sprach im März dieses Jahres angesichts der aktuellen Berichterstattung über Russland sogar von Techniken psychologischer Kriegsführung.[42]

Europa steht vor einer Grundsatzentscheidung

Die Grundsatzentscheidung darüber, welchen weiteren Verlauf die Geschichte im 21. Jahrhundert nehmen wird, liegt wahrscheinlich weder bei den USA noch bei Russland. Die Interessen sowohl Russlands als auch der USA sind zu eindeutig und programmatisch festgelegt, als dass beide Staaten sich ernsthaft zwischen grundsätzlich verschiedenen Alternativen entscheiden könnten. Russland würde sein Interesse, die ehemaligen Sowjetrepubliken als seine natürliche Einflusszone anzusehen, wahrscheinlich nie fallen lassen. Umgekehrt scheinen die USA nicht gewillt zu sein, ihre Vorherrschaft auf dem eurasischen Kontinent kampflos aufzugeben. Die Entscheidung in diesem „Great Game“ liegt deshalb bei einem geopolitischen Akteur, der für die USA auf der einen Seite ein unverzichtbarer Partner ist, dessen eigene Interessenlage von der US-amerikanischen jedoch in wichtigen Punkten abweicht und der von verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten profitieren könnte, also wirklich vor einer Wahl steht.

Die einzige geopolitische Macht, auf welche diese Beschreibung zutrifft, ist Europa. Das von Brzezinski vorgelegte geopolitische Konzept amerikanischer Vorherrschaft im 21. Jahrhundert erweist sich in jeglicher Hinsicht abhängig von europäischer Kooperation. Ohne eine von der EU unterstützte Osterweiterung der NATO erwiese sich der Plan, ein von den USA dominiertes transeurasisches Sicherheitssystem zu schaffen, als unrealistisch. Auch die militärische Aufrüstung der USA gegenüber Russland wäre problematisch, wenn europäische Staaten eine Beteiligung am Raketenschild verweigern würden. Schließlich müssten US-amerikanische Rüstungsanstrengungen auch in anderen Bereichen schnell an Grenzen stoßen, wenn diese auch nur in Teilen der EU öffentlich kritisieren würden. Weder der Einsatz von Uranmunition im Irak und Afghanistan mit seinen katastrophalen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung noch die Entwicklung von Atomwaffen mit geringer Sprengkraft noch die Entwicklung weltraumgestützter Waffensysteme wäre ohne die schweigende Tolerierung durch die EU-Staaten möglich.

Seiner eigenen geopolitischen Lage nach kann Europa sowohl atlantische als auch eurasische Kooperationen eingehen. Eine Politik, die sich sowohl nach Westen als auch nach Osten orientieren würde, wäre den europäischen Interessen am ehesten zuträglich. Eine solche Ostorientierung der EU versuchen die USA zu verhindern. Möglicherweise spekulieren sie darauf, dass die Installation eines Raketenschildes in Osteuropa russische Reaktionen nach sich zieht. Die dadurch erzeugte Verschlechterung der russisch-europäischen Beziehungen könnte dann das Bedrohungsszenario erzeugen, das die USA brauchen, um Europa auf eine transatlantische Orientierung festzulegen.

Doch anders als der amerikanische ist der europäische Kontinent in zwei Weltkriegen verwüstet worden. Aus dieser Erfahrung resultiert eine Verantwortung Europas gegenüber der Welt, seine Entscheidungen mit dem sicheren Gespür zu treffen, wann Machtpolitik in Selbstzerstörung umschlägt. Europa ist den Weg, der direkt in die Barbarei führt, zweimal gegangen und sollte in der Lage sein, die Zeichen frühzeitig zu erkennen, mit denen sich die abschüssige Bahn der Katastrophenpolitik ankündigt. Kriegslüsterne Eroberungsträume sollten europäischen Politikern deshalb fremd sein. Sie wirken in der heutigen Welt ohnehin anachronistisch. Ein neues nukleares Wettrüsten auf europäischem Boden darf nicht zugelassen werden! Amerikanische Träume, in denen die USA in der Rolle eines zweiten Roms gesehen werden[43], sind der kulturellen Entwicklung des heutigen Menschen nicht mehr angemessen. Sollte Brüssel nicht in der Lage sein, den Regierungen Polens und Tschechiens die Stationierung US-amerikanischer Radar- und Raketenabschussanlagen auszureden, so stellt sich die Frage, welchen politischen Sinn und Zweck die Europäische Union eigentlich noch hat. Im Übrigen ist die kulturelle Ausstrahlung Europas stark genug, und die EU verfügt zudem über genügend wirtschaftliche Druckmittel, um die politische und gesellschaftliche Entwicklung in Russland in ihrem Sinne zu beeinflussen. Voraussetzung ist natürlich, dass man die Legitimität russischer Interessen anerkennt. Und schließlich ist Angst vor Russland auch faktisch ganz unangebracht. Die Erholung und Stabilisierung des Landes bedeutet noch lange nicht, dass Russland allzu bald eine Weltmacht werden wird. Dazu ist die ethnische Fragmentierung in seinen südlichen und östlichen Provinzen zu groß. Die Größe des Landes stellt auch ein Eigengewicht dar, das Kräfte bindet und außenpolitischen Abenteuern eher im Wege steht. Und auch ein wirtschaftlich erholtes Russland wird immer noch deutlich schwächer sein als die Wirtschaftsräume Chinas und Europas. Nichtsdestotrotz liegen die zukünftigen wirtschaftlichen Wachstumsräume in Russland, Indien und China, und es wäre daher ein Selbstverrat europäischer Interessen, wenn die EU sich an dem von den USA geplanten neuen Kalten Krieg beteiligt und es zulässt, dass ein neuer eiserner Vorhang Europa von Asien trennt.

Auch in anderen Bereichen ist es erforderlich, dass die Europäische Union den USA selbstbewusst entgegentritt. Wie alle Industrienationen sind auch europäische Staaten an einem günstigen Zugang zu den Ölvorräten im Nahen und Mittleren Osten interessiert. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund von Peak Oil. Die USA tragen erhebliche Mitverantwortung dafür, dass präventive Maßnahmen zur Bewältigung der kommenden Energiekrise bislang kaum ergriffen worden sind. Versuchen, die zukünftige Energieknappheit vorzugsweise militärisch zu lösen, sollte Europa eine klare Absage erteilen. Der Irak ist ein Beispiel dafür, dass eine militärische „Lösung“ auch gar nicht möglich ist. Es wäre deshalb dringend nötig, eine internationale Konferenz zu dem Thema einzuberufen und international abgestimmte Strategien zu entwerfen, die auch Länder wie Russland, China und Indien als gleichberechtigte Partner mit einbeziehen.

Brzezinskis geopolitische Analysen besitzen eine Eigenlogik mit hoher Überzeugungskraft. Doch dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Prämissen falsch sind. Eurasien als Schachbrett zu betrachten, ist auf den ersten Blick eine originelle Idee. Doch wie so viele Ideen, die Geschichtsmächtigkeit beansprucht haben, erweist sie sich bei genauerer Betrachtung als geistig leer und politisch verheerend. Die Welt ist im 21. Jahrhundert sehr klein und zerbrechlich geworden. Geopolitische Machtspiele, mit denen die Logik eines Schachspiels auf Kontinente übertragen wird, können dieser neuen Situation nicht gerecht werden. Es ist daher erforderlich, die geopolitische Logik an sich zu relativieren und in Zweifel zu ziehen. Statt den geopolitischen Machtkampf bis zum Äußersten zu treiben, käme es darauf an, der geopolitischen Denkweise eine Logik der Zivilisation entgegenzustellen. Viel wichtiger als die Frage, ob das 21. Jahrhundert ein amerikanisches, europäisches oder chinesisches sein wird, ist die Frage, auf welchen Prämissen wir im 21. Jahrhundert das Leben der menschlichen Gattung begründen wollen. Die USA haben mit Guantánamo und der Grünen Zone in Bagdad ihre Vorschläge bereits eingereicht. Nun ist Europa am Zuge. Europa hat die Kraft und die Möglichkeit, die US-amerikanischen Welteroberungspläne zu begraben. Und Europa sollte dies im Interesse der Zivilisation auch tun.

Der Artikel erschien in gekürzter Fassung in „Blätter für deutsche und internationale Politik“, Heft 7, 2008.



[1] Zbigniew Brzezinski, Second Chance, New York 2007, S. 39

[2] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht - Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S. 307

[3] Ebenda, S. 57

[4] Ebenda, S. 54 - 58

[5] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht - Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S. 64

[6] Ebenda, S. 283

[7] Ebenda, S. 304 - 306

[8] Ebenda S. 91

[9] Ebenda, S. 129

[10] Ebenda, S. 303

[11] Ebenda, S. 305

[12] Ebenda, S. 297

[13] Rede von Wladimir Putin auf der Konferenz für Sicherheitspolitik in München am 10. 02. 2007, Was ist aus den Garantien geworden?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, März 2007, S. 374

[14] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht - Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S. 307

[15] Ebenda, S. 91

[16] Ebenda, S. 298

[17] Ebenda, S. 307

[18] Rede von Wladimir Putin auf der Konferenz für Sicherheitspolitik in München am 10. 02. 2007, Was ist aus den Garantien geworden?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, März 2007, S. 374

[19] Wolfgang Metzner, Uli Hauser, Uran-Munition: Der Fluch des Krieges, Stern, 20.03.2003

[20] Keir A. Lieber, Darley G. Press, The Rise of U.S. Nuclear Primacy, Foreign Affairs, April/Mai 2006, S. 42 - 54

[21] Elmar Getto, Sind Mini-Nukes harmlos?, in: Journalismus – Nachrichen von heute (oraclesyndicate.twoday.net/), 1. März 2006

[22] Eine Information der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V., Die Bedrohung der Zivilbevölkerung durch erdeindringende Atomwaffen geringer Sprengkraft - Nukleare “Bunkerknacker” und ihre medizinischen Folgen, in: IPPNW akzente, März 2003

[23] Seymour M. Hersh, The Iran Plans, The New Yorker, 17. April 2006

[24] Wladimir Putin, Im Wortlaut: Was Wladimir Putin am 4. Juni 2007 wirklich sagte, in: TLAXCALA (http://www.tlaxcala.es/pp.asp?reference=3497&lg=de)

[25] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht - Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S. 142 ff.

[26] Ebenda, S. 168

[27] Ebenda, S. 288

[28] Ebenda, S. 288/289

[29] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht - Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S. 180

[30] Vgl.: Zbigniew Brzezinski, Second Chance, New York 2007, S. 189

[31] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Berlin 1997, S. 178

[32] „Order, Order: Can Mikhail Gorbachev deliver the Soviet Union from chaos without restoring centralised autocracy?“ The Economist, 22. Dezember 1990

[33] Naomi Klein, Russland und die neuen Flegeljahre des freien Marktes, in: Die Schock-Strategie, Frankfurt a. Main 2007 S. 349 - 354

[34] E.S. Browning, Bond Investors Gamble on Russian Stocks, Wall Street Journal, 24. März 1995

[35] Naomi Klein, Russland wählt die ’Pinochet-Option’, in: Die Schock-Strategie, Frankfurt a. M. 2007, S.323

[36] Vgl.: Zbigniew Brzezinski, Second Chance, New York 2007, S. 186 - 188

[37] „Doch in meinen Augen ist „the surge“ lediglich ein anderer Ausdruck für „ethnische Säuberungen“. Seymour Hersh, Die Brüchigkeit der Demokratie, Blätter für deutsche und internationale Politik, November 2007, S.1364

[38] Niall Ferguson, The Next War of the World, Foreign Affairs, 11. September 2006

[39] „Die Periode der Repression stelle eine besondere Tragödie für Russland dar. Das Ausmaß sei kolossal gewesen, die nationale Elite sei zerstört worden.“ Putin besucht Gedenkstätte für Stalin-Opfer, NZZ 31.10.2007

[40] Heinrich Vogel, Machtwechsel als Hütchenspiel, Russlandanalysen, Nr. 154, 21.12. 2007, S. 4

[41] Michail Gorbatschow, Offener Brief von Michail Gorbatschow, Russland.ru – Die Internetzeitung, 26.03. 2008

[42] Paul Craig Roberts, Secret Schemes and Undeclared Agendas, Counterpunch, 24.03.2008

[43] Vgl.: Anne Norton, Leo Strauss and the Politics of American Empire, New Haven 2004


Mit freundlicher Genehmigung von hintergrund.de ; Quelle des Originalbeitrags:

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